Real: Kahlschlag bei den Löhnen

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Kassierer*innen fast ein Drittel schlechter bezahlt. Verdi fordert allgemeinverbindlichen Branchen-Tarif

Ein TV-Beitrag von Achim Pollmeier, den das investigative ARD-Magazin Monitor am 6. September 2018 ausstrahlte, illustriert die Auswirkungen von Tarifflucht und Lohndumping im Einzelhandel.1

Der 58-jährigen Verkäuferin Renate H. aus Düsseldorf setzt die Geschäftsführung der Supermarkt-Kette Real die Pistole auf die Brust. Ihr befristeter Vertrag läuft aus. Wenn sie ihn verlängern möchte, muss sie neue Konditionen akzeptieren. Statt 1.444,- Euro brutto soll sie in Zukunft bloße 977,- Euro verdienen und würde damit als Alleinstehende wohl unter das Existenzminimum rutschen.

Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, sondern um flächendeckende Tarifflucht, der im Fall Real rund 34.000 Festangestellte betrifft.


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Auch Aldi-Nord bereitet Tarif-Flucht vor

Eine Geschichte des Spiegel hatte Anfang August ähnliche Zustände bei Aldi-Nord ans Tageslicht gebracht.2 Hier versucht das Management ca. 36.000 Beschäftigte unter Druck zu setzen, neue Arbeitsverträge zu unterzeichnen, die folgenden Passus enthalten: Der aktuelle Tarifvertrag gelte nur, „solange der Arbeitgeber tarifgebunden ist“, heißt es. Auch hier ist Tarifflucht zu befürchten.

Außerdem sehen die Verträge vor, dass Verkäufer flexibel zur Arbeit gerufen werden und Überstunden ohne Genehmigung des Betriebsrats gefordert werden können. Aldi-Nord fordert von Filialleitern 2,5 Stunden Mehrarbeit pro Woche und laut Betriebsvereinbarung könnte mehr gefordert werden für „nicht vorhersehbare Fälle“. Außerdem kann von den Mitarbeitern verlangt werden, zwischen 4 Uhr morgens und 23 Uhr abends einsatzbereit zu sein.

Das Rattenrennen um immer niedrigere Löhne im Einzelhandel ist demnach in vollem Gange. Dabei spielen gelbe Gewerkschaften eine entscheidende Rolle. Die Metro AG, zu der Real gehört, nutzt den DHV, Aldi-Nord baut die Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsräte (AUB) seit Jahren als Verdi-Konkurrenz auf, um bei Betriebsratswahlen Mehrheiten zu erringen und Dumping-Tarifverträge zu unterzeichnen. Der Spiegel enthüllte auch massiven Druck und Union Busting-Methoden des Aldi-Managements gegen renitente Beschäftige. Carolin M., eine Filialleiterin aus Nordrhein-Westfalen, hätte etwa unangekündigte Kontrollen, unbestellte und beschädigte Ware und mehrere Zusatzaufgaben innerhalb kürzester Zeit erhalten. Sie hatte sich zuvor geweigert, den neuen Arbeitsvertrag zu unterschreiben.

Die Schwäche von Verdi knallhart genutzt

Am Schwarzen Freitag, 13. Juli 2018 hatte Verdi bei Real bundesweit zum Streik aufgerufen, gleichzeitig fanden in rund 25 Städten Protest-Aktionen von Menschenrechtlern, solidarischen Gewerkschaftern und Sozialisten vor und in Real-Supermärkten statt.3 Ein Zusammengehen von Streik-Aktivitäten und Bürgerprotest gestaltete sich allerdings schwierig. Während die Metro-Aktie am Vorabend des Schwarzen Freitags mit 10,24 Euro einen historischen Tiefststand erreichte, zog sie nach dem Aktionstag erstmal an.4 Die Botschaft der Finanzanalysten: Alles halb so schlimm. Verdi-Streiks ungefährlich, Bürger-Proteste isoliert.

Verdi steht im Einzelhandel offenbar mit dem Rücken zur Wand. Statt eine Organizing-Welle loszutreten und Bürgerproteste gegen „kriminelle Familienclans“ wie die Großaktionäre Albrecht (Aldi), Haniel, Schmidt-Ruthenbecks (Metro) und ihre Erben zu entfachen, die ihre auf Kosten der Beschäftigten und der Steuerzahler erwirtschafteten Milliarden in Steueroasen oder Stiftungen überführt haben, sucht Verdi ihr Heil in Gesetzesänderungen. Man fordert von der Regierung einen allgemeinverbindlichen Branchentarif für den Einzelhandel.

Allgemeinverbindlichkeit ist Audruck der Schwäche

Verdi-Handelschefin Stefanie Nutzenberger übergab Ende November 2017 im Rahmen der sog. AVE-Kampagne (Allgemeinverbindlichkeit im Einzelhandel) 15.000 Postkarten mit Unterstüztungsunterschriften an die CDU/CSU Bundestagsfraktion.5 Dahinter steckt auch Resignation. Was über Streiks nicht mehr erzwungen werden kann, soll fortan per Gesetz geregelt werden. „Wenn alle Unternehmen mindestens den Tarif zahlen müssen, ist Schluss mit Lohndumping zu Lasten der Handelsbeschäftigten!“, erklärte Nutzenberger damals.

Im Reinigungsgewerbe lässt sich allerdings beobachten, dass ein allgemeinverbindlicher Branchentarif keineswegs zur Sonne, zur Freiheit führt. Denn fortan verhandelt ein Arbeitgeberverband, der nur noch einen Bruchteil der Unternehmer der Branche vertritt, mit einer Gewerkschaft, die nur einen Bruchteil der Beschäftigten als Mitglieder vertritt. Das Ergebnis wird per Gesetz auf die gesamte Branche ausgerollt – offiziell und pro forma. Die Unternehmen, die nicht im Unternehmerverband sind, unterlaufen den Tarif – oft mit kriminellen Methoden, da sie sich überrumpelt fühlen – es handelt sich um Konditionen, die zumeist ein paar großen Fische der Branche unterzeichnet haben.

Die Gewerkschaft profitiert an der Basis kaum

Der Organisierungsgrad der Beschäftigten stagniert oder sinkt, weil die Leute den Tarifvertrag und darin enthaltene Lohnerhöhungen etc. weitgehend ohne eigenes Zutun erhalten haben. Wozu einer Gewerkschaft beitreten und 1% vom Lohn abgeben? Doch ohne starke Betriebsgruppen und aktive Betriebsräte bleiben die schönsten Tarifverträge Makulatur, denn dann gibt es niemanden der ihre Einhaltung überwacht und rechtsbrüchigen Unternehmern auf die Finger haut.

Als dritte Säule erfordern allgemeinverbindliche Branchentarife – wie auch das Mindestlohngesetz und Arbeitsschutzvorschriften – eine personell gut ausgestattete Exekutive, die konsequent ermittelt und Delinquenten einer empfindlichen Strafe zuführt. Vorbild könnte die Fahndung nach Steuerflüchtlingen durch Schwerpunktstaatsanwaltschaften sein. Doch davon redet Verdi bislang nicht. So erscheint die AVE-Kampagne derzeit halbgar und illusorisch.

Die gelbe Gefahr

Dass Metro die Scheingewerkschaft DHV und Aldi-Nord die AUB aufbaut, dürfte auch strategische Gründe haben. Diese sollen Verdi mittelfristig nicht nur bei Betriebsratswahlen entgegen treten, sondern könnten den Erben der einst so agilen HBV auch die Position am Verhandlungstisch für die allgemeinverbindlichen Branchentarife streitig machen.

Die Gelben könnten zudem die Keimzelle für eine AfD-nahe Gewerkschaftsbewegung bilden, die den politischen Erdrutsch, der seit 2015 vor sich geht, auch auf betrieblicher Ebene nachvollzieht. Dann wären sie nicht länger gelbe Schein-Gewerkschaften, sondern eine reale rechte Konkurrenz, die wahrscheinlich in blau daher kommen würde.6

Elmar Wigand


Der Beitrag erschien in einer anderen Version am 10.9. 2018 in der Tageszeitung junge Welt.


Fußnoten / Anmerkungen

1 Achim Pollmeier: Neue Billiglöhne bei „Real“: Abstieg auf Raten, WDR Monitor, ausgestrahlt in der ARD, 6.10.2018, https://www.youtube.com/watch?v=viTmcL2jWig

2 Kristina Gnirke: Neue Arbeitsverträge – Mitarbeiter befürchten Tarifausstieg von Aldi Nord, Der Spiegel, 15.8.2018, http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/aldi-nord-mitarbeiter-befuerchten-tarifausstieg-des-discounters-a-1215331.html

3 aktion./.arbeitsunrecht: Real: Schwarzer Freitag für Metro AG, arbeitsunrecht in deutschland, 14.7.2018, https://arbeitsunrecht.de/real-schwarzer-freitag-fuer-metro-ag/

4 Bis zum 23.7.2018 rutschte man dann auf 10,1 €, bis die Verkäufe der Großaktionärsfamilie Haniel, der Metro-Aktie eine wahre Hausse bescherten. Quelle: https://www.boerse-online.de/aktie/metro-aktie , abgerufen 11.9.2018

5 Tarifverträge sollen für alle im Handel gelten, verdi.de, https://handel.verdi.de/themen/tarifpolitik/ave-kampagne/++co++3ccf790a-d124-11e7-bbbc-525400f67940 , abgerufen 7.9.2018

6 Mit der DePolGe existiert bereits eine AfD-nahe Polizeigewerkschaft, in zahlreichen Großbetrieben gibt es inzwischen rechte bis rechtsextreme Betriebsratskerne und Betriebsrgruppen. Bernd Höcke gründete in Ost-Deutschland einen „alternativen Arbeitnehmerverband Mitteldeutschland“ (ALARM). Quelle: Marcus Bensmann, correctiv, 1.5.2017, https://correctiv.org/blog/ruhr/artikel/2017/05/01/der-arbeiterkampf-der-afd/


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