TUIfly: Erfolgreiches Sickout schockt Transportbranche

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Zu den Hintergründen des wilden Streiks durch Krankheit. Beschäftigte erreichen 3 Jahre Jobgarantie. FAZ und WiWo hetzen

TUIfly-Streik Bild Aeroflot-Stewardess Turbine
Alle Turbinen stehen still, wenn unser starker Arm es will. (Foto: A. Mishin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

von Elmar Wigand

Was ein historisches Ereignis ist, lässt sich für Zeitgenossen oft nur schwer ermessen. Im Fall des wilden Streiks, der vom 3. bis 7. Oktober 2016 im deutschen Luftverkehr stattfand, können wir uns allerdings heute schon sicher sein, dass er Geschichte geschrieben hat.

Am Montag 3. Oktober 2016 brach eine Krankheitswelle bei Piloten, Flugbegleitern und Bodenpersonal des Urlaubsfliegers TUIfly los, die in den folgenden Tagen 450 bis 500 Beschäftigte umfasste und nicht nur zu 2.000 Krankheitstagen führte, sondern auch zur kompletten Einstellung des Flugverkehrs der Linie. Im Amerikanischen heißt diese Spielart des wilden Streiks „sickout“; das Wort ist auch in deutschen Flugzeugen geläufig.

Das TUIfly-Sickout geschah zu einem schmerzhaften Zeitpunkt: Nationalfeiertag, verlängertes Wochenende, Beginn der Herbstferien in Nordrhein-Westfalen. Die Airline war auf diese Reaktion in keiner Weise vorbereitet und reagierte hilflos. Zehntausende Touristen saßen auf Mallorca fest sowie an deutschen Flughäfen, das Chaos war riesig, eine Welle von Schadensersatzforderungen geprellter Urlauber droht.


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Ausgangspunkt des Streiks war laut Berichten des Online-Portals Vielfliegertreff.de (1) der Flughafen Hannover-Langenhagen, wo TUIfly seine Homebase hat, er breitete sich in den folgenden Tagen nach Frankfurt, Stuttgart, Berlin-Tegel und Hamburg aus (2). Neben TUIfly waren auch Air Berlin und Eurowings betroffen. Zudem führt TUIfly Luftpost-Nachtflüge für die Deutsche Post AG durch.(4) 

Paradoxe Situation: TUIfly verhandelt mit Unbeteiligten

320px-Stewardess,_circa_1949-50,_American_Overseas,_Flaghip_Denmark,_Boeing_377_StratocruiserObwohl es sich um eine illegale, spontane Aktion handelte, die logischerweise ohne Anführer und Ansprechpartner stattfand, kam es am Ende der Streikwoche zu Verhandlungen mit Betriebsrat und Aufsichtsrat von TUIfly, die am Ausstand formell überhaupt nicht beteiligt waren. Durch ihre Aufsichtsratsmandate waren ver.di und die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) an Bord, nicht aber die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO).(17) UFO distanzierte sich zwar ebenfalls deutlich von der Kampfform des Sickout, äußerte aber weitreichendes Verständnis für die Sorgen der erkrankten Kollegen: „Wer den Kopf nicht frei hat, der darf nicht fliegen“, ließ sich Ufo-Chef Nicoley Baublies vom mdr zitieren.(18)

Die am Konflikt gleichermaßen unbeteiligten Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) und sein niedersächsischer Amtskollege Olaf Lies (SPD) intervenierten.

Das Sickout konnte durch weitreichende Zusagen eingedämmt werden: Arbeitsplatzgarantien und Bestandsschutz für drei Jahre stehen im Raum. Man wird beobachten müssen, was daraus konkret wird. Ab dem 10. Oktober 2016 soll der Flugverkehr wieder störungsfrei verlaufen sein.

Österreich als deutschsprachiges Lohn-Dumping-Paradies

TUIfly-Aufsichtsratschef Henrik Homann hatte die Streikwelle durch eine kaltschnäuzige Ankündigung am 30. September 2016 losgetreten. Nicht nur der Inhalt brachte seine Angestellten auf die Palme – TUIfly sollte mit der österreichischen Air Berlin-Tochter Niki Luftfahrt GmbH zusammen gelegt werden, die deutsche Tarife systematisch unterbietet – auch der Stil sorgte für Unmut. Ein ver.di-Vertreter sprach von „Geheimverhandlungen“. Zur Bereinigung von Überkapazitäten im Flugverkehr soll TUIfly in eine neue Dachholding mit dem Air Berlin-Großaktionär Etihad integriert werden. TUIfly ist bereits jetzt durch Leasing-Verträge, die Wartung, Versicherung und Besatzung von 14 Jets umfassen, eng mit der krisengeschüttelten Air Berlin verbunden.

Nach Angaben von ver.di unterbietet Niki die Löhne von Tuifly um mehr als 20 Prozent. Vorreiter bei der Erschließung von Österreich als deutschsprachiges Lohndumping-Paradies war die Lufthansa, die zu diesem Zweck 2009 die Austrian Airlines (AUA) übernahm.(16) Ein brutaler Preiskampf unter europäischen Billigfliegern wird seit Jahren vom allem von Ryanair voran getrieben.(19)

Streikverbote im Transportsektor erfordern ungewöhnliche Maßnahmen

Der wilde Streik bei TUIfly ist auch eine Reaktion auf erfolgreiche Versuche des Arbeitsrechtlers Thomas Ubber (Kanzlei Allen & Overy), Gewerkschaften wie UFO und Cockpit durch gerichtliche Streik-Verbote, Schadensersatzforderungen und Gesetzesänderungen zur Tarifeinheit zu brechen. Ubber vertritt mit Air Berlin, Lufthansa, DB, Fraport und anderen de facto ein Branchen-Syndikat.

Für Fraport konnte Ubber am 26.7. 2016 ein spektakuläres BAG-Urteil gegen die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) erwirken (1 AZR 160/14), das einen Streik vom Februar 2012 wegen Kleinigkeiten für illegal erklärte (10). Weil das oberste Arbeitsgericht zudem entschied, die GdF müsse Schadensersatz leisten, ist die kleine Gewerkschaft (4.000 Mitglieder) in ihrer Existenz bedroht. Im Raum stehen über 5 Mio. €!

Auch die Konkurrenz zwischen der unabhängigen UFO und ver.di um die Hoheit in den Fliegern hat den Konflikt befeuert: So versuchte ver.di am 1.10.2016, die lästige Rivalin bei Air Berlin durch einseitigen Abschluss eines Manteltarifvertrag für sämtliche 2.600 Beschäftigte auszubooten (15). Weil UFO an diesen Gesprächen nicht beteiligt wurde, zog deren Tarifkommission laut Branchenportal airliners.de vom 4.10.2016 in Erwägung zu klagen.(9)

Unternehmer-Presse schäumt: Unwürdig + asozial! Eigennutz!!

Das deutsche Establishment reagierte auf das TUIfly-Sickout 2016 geschockt und unschlüssig. Lesenswert ist eine hilflos schwankende Tirade der FAZ-Wirtschaftsredakteurin Corinna Budras vom 9.10.2016 mit dem Titel „Kollektives Krankfeiern ist asozial“. Einerseits erkennt sie die Kampfform des Flugpersonals als „zivilen Ungehorsam“ an, andererseits hetzt sie in einer völlig überzogenen, ja enthemmten Wortwahl: „unwürdig, illegal, asozial, Verfall der Sitten“.(14)

Das Handelsblatt lässt Anwalt Frank-Karl Heuchemer (Kanzlei White & Case) zu Wort kommen, um unter potentiellen Nachahmern die Angst zu schüren, Krankmeldungen könnten fristlose Kündigungen zur Folge haben. (5) Der Spiegel titelte hingegen in die entgegengesetzte Richtung: „Kollektive Krankmeldungen sind ein schlaues Mittel“.(7) In der Wirtschaftswoche ließ Rüdiger Kiani-Kreß einen anonymen Piloten als Sprechpuppe auftreten, der angeblich von „Besitzstandwahrung“ und „Privilegien“ bei TUIfly schwafelte: „Das alles geschieht aus purem Eigennutz.“.(8) Auch diese Perle des Qualitätsjournalismus fällt in die Kategorie „peinliche, vorhersehbare Unternehmer-Propaganda“. Sie dürfte keine einzige Stewardess und keinen Piloten gesund gemacht haben.

Sickout: Kollektives Krankfeiern als Revolte der unteren Mittelklasse

Retro Flugbegleiterin PanAm Stewardess retroDer wilde Streik durch Massen-Krankmeldungen ist für die deutsche Gewerkschaftskultur im Allgemeinen untypisch, was aber nicht für Beschäftigte im Transportsektor und im öffentlichen Dienst gilt. Der US-Autor Pete Hamill veröffentlichte im April 1969 einen einflussreichen Aufsatz, in dem er Phänomen des „sickout“ als Teil einer „Revolte der weißen unteren Mittelklasse“ charakterisierte (New York Magazine). Zunächst wurde die Aktionsform unter Polizisten als „blue flu“ (blaue Grippe) und Feuerwehrmännern als „red rash“ (rote Krätze) populär.

Am 18. Mai 1969 begann die US-Fluglotsengewerkschaft PATCO erfolgreich mit dieser Kampfform zu experimentieren, sie sollte das „sickout“ in den 1970ern perfektionieren.(6) Die systematische Zerschlagung von PATCO durch die Reagan-Administration verwundert daher im historischen Rückblick nicht. Das Union Busting-Manöver begann mit einer Pressekonferenz am 3. August 1981, in der Ronald Reagan 13.000 streikenden PATCO-Fluglotsen ein Ultimatum stellte: Wer nicht binnen 48 Stunden zur Arbeit zurück kehrte, würde gefeuert und nie wieder einen Job im öffentlichen Dienst bekommen. Und so kam es tatsächlich. Reagan entließ auf einen Schlag 11.345 Streikende mit Hilfe eines vergessenen Notstandsparagraphen aus dem Taft-Hartley Act von 1947 und zerschlug die Gewerkschaft, deren Führer zeitweilig in Haft kamen. Die Niederlage von PATCO gilt als Startschuss für das systematische Schleifen von Gewerkschaftsbastionen und Arbeitsrechten in den USA („The day the Middle Class died“, Michael Moore). (11)

Bereits 1973 war die Kampfform  des Sickout auch in Westdeutschland angekommen – durch renitente Fluglotsen, die sie Hand in Hand mit der Methode des „Bummelstreiks“ (Dienst nach Vorschrift) einsetzten. Der Spiegel titelte im Juli 73: „Lotsenstreik – Diktatur der Spezialisten?“ (12) Der Bundesgerichtshof verbot solche Aktionsformen in Deutschland mit einem Urteil vom 31.1.1978 (Az. VI ZR 32/77) als sittenwidrig und bedrohte Gewerkschaften fortan mit drakonischen Schadensersatzforderungen. (13) 

Fazit: Beeindruckende Reaktion auf enthemmtes Union Busting

Die Geschichte der Arbeiterbewegung lehrt, dass Beschäftigte, denen angemessene legale Möglichkeiten der Interessenvertretung und Konfliktführung genommen werden, irgendwann zu anderen Methoden greifen. Dass es ausgerechnet im wirtschaftsfriedlich getrimmten Deutschland zu einer derart schnellen, massenhaften und zudem erfolgreichen Reaktion kommen würde, dürfte dem Unternehmerlager schwer zu denken geben.

Möglicherweise ist die Union Busting-Schraube inzwischen so fest angezogen, dass das Gewinde hohl rollt.


Der Text erschien in stark gekürzter Form in der Tageszeitung junge Welt vom 13.10.2016.


Quellen

(1) http://www.vielfliegertreff.de/sonstige-europaeische-airlines/100754-tuifly-diverse-ausfaelle-verspaetungen-und-angeblich-wilder-streik.html , 3.10.2016

(2) http://www.spiegel.de/reise/aktuell/noch-immer-flugausfaelle-bei-tuifly-und-air-berlin-a-1115092.html

(4) https://de.wikipedia.org/wiki/TUIfly#Flugbetrieb

(5) http://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/arbeitsrechtsexperte-dies-kann-eine-fristlose-kuendigung-rechtfertigen/14640108.html , 4.10.2016

(6) Joseph A. McCartin: Collision Course. Ronald Reagen, the Air Traffic Controllers and the Strike. Oxford University Press 2011, Kapitel: „New Vectors“

(7) http://www.spiegel.de/karriere/tuifly-mitarbeiter-melden-sich-krank-ist-das-ein-wilder-streik-a-1115393.html , Karriere-Spiegel, 6.10.2016

(8) http://www.wiwo.de/unternehmen/dienstleister/tuifly-streik-ohne-ruecksicht-auf-verluste/14657578.html

(9) http://www.airliners.de/ufo-verdi-manteltarifvertrag-air-berlin/39708 , 4.10.2016

(10) https://arbeitsunrecht.de/bag-vs-fluglotsen-union-busting-durch-schadensersatz/ , 2.8.2016

(11) http://www.occasionalplanet.org/2011/08/16/michael-moore-remembering-the-day-the-middle-class-died/ , 16.8.2011

(12) http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41972566.html , 9.7.1973

(13) https://web.archive.org/web/20050119220610/http://www.lexrex.de/rechtsprechung/entscheidungen/ctg1079949631645/1154.html

(14) http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kritik-an-protestaktion-von-tuifly-mitarbeitern-14472180.html , 9.102016

(15) http://www.stern.de/wirtschaft/news/neuer-manteltarifvertrag-kabinen-beschaeftigte–air-berlin-einigt-sich-mit-verdi-7084132.html , 1.10.2016

(16) http://www.haz.de/Nachrichten/Wirtschaft/Niedersachsen/Tuifly-Chef-gibt-Mitarbeitern-Standort-Garantie-bei-Fluggeschaeft-Neuordnung , 4.10.2016

(17) https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/tuifly152.pdf

(18) http://www.mdr.de/nachrichten/wirtschaft/inland/flugausfaelle-bei-tuifly-ufo-verteidigt-piloten-100.html , 7.10.2016

(19) https://arbeitsunrecht.de/ryanair-lotsen-streiks-in-europa-verbieten/ , 4.4.2012


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