VW Wolfsburg Halle 12: Arbeiter stirbt, Produktion geht weiter

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VW Wolfsburg Fließband 1960
Fließband 1960. Das VW-Werk in Wolfsburg sieht heute völlig anders aus. Humaner ist die Arbeit offenbar nicht geworden. (wikicomons, CC BY-SA 2.0)

Leiche liegt in der Nachtschicht 10 Meter neben VW-Fließband.

Vorgang wirft Fragen um die Zustände bei VW auf: Sind manche Arbeiter bloß Menschenmaterial?

VW - Tod in der Nachtschicht bei Volkswagen. Leiche liegt 10 Meter neben Fließband
Im Februar 2020 ging das Foto dieser Traueranzeige aus der Betriebszeitung Vorwärtsgang von und für Beschäftigte von VW, Porsche, Audi und MAN in Deutschland durch die sozialen Netzwerke. Eine Ausgabe der Betriebszeitung liegt der Redaktion vor. Wer mehr zum Vorgang weiß, kann ǘber die Kommentarfunktion anonym Informationen veröffentlichen.

Was ist los mit der IG Metall Wolfsburg? Welche Rolle spielen VW-Betriebsrat und Vertrauensleute?

Die Betriebszeitung Vor-Wärtsgang** (6.2.2020, Seite 8, pdf) berichtet von einem 59jährigen Kollegen, der während der Nachtschicht am 10.12.2019 in Halle 12 des VW-Werks Wolfsburg verstarb. Doch seine Kolleg*innen mussten offenbar weiterarbeiten, während der Leichnam noch in der Halle lag – 10 Meter vom Fließband entfernt. Führungskräfte sollen sich menschenverachtend und abfällig über Tod des Mitarbeiters. Aber nicht nur die Vorgesetzten, auch Gewerkschaftsvertreter bei VW erscheinen in einem fragwürdigen Licht.

Offenbar hatte der Verstorbene trotz Krankheit gearbeitet – ein Verhalten, das im Fachjargon „Präsentismus“ heißt und in Deutschland starkt verbreitet ist.*

Gemeinsame Anfrage von Stiftung ethecon und aktion./.arbeitsunrecht an VW bis heute unbeantwortet

Aufgrund der schwerwiegenden Vorwürfe, die wir zunächst bei Facebook fanden aber ansonsten nicht bestätigen konnten, haben ethecon – Stiftung ethik & ökonomie und die aktion ./. arbeitsunrecht am 21.02.2020 eine gemeinsame Anfrage an die VW-Werksleitung bzw. den Presse-Ansprechpartner Peik von Bestenbostel gestellt (pdf). Wir bitten darin vor allem um Aufklärung zu folgenden Fragen:


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  • Bei welchem Unternehmen und mit welcher Vertragsform war der Verstorbene zum Zeitpunkt seines Todes bei VW beschäftigt? (festangestellter Beschäftiger, Personalüberlassung, Werkvertragsarbeit)
  • Wie lange war er zum Zeitpunkt seines Todes bereits im Werk eingesetzt?

In welcher Form geht die Werksleitung den in der Traueranzeige erhobenen Vorwürfen nach? Wir beziehen uns hier insbesondere auf folgende Fragen:

  • Sind die Schichtführer/Meister ihrer Fürsorgepflicht im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Verstorbenen nachgekommen?
  • Hätte der Verstorbene wegen offensichtlichem Unwohlseins zum Arzt geschickt werden müssen?
  • Fühlte sich der Mann unter Druck gesetzt auf eine Krankschreibung zu verzichten?

Mauern und Schweigen auch durch Interessenvertreter

Wir haben verschiedene Versuche unternommen, über den Betriebsrat, den Vertrauensleutekörper oder die IG Metall Wolfsburg Informationen zu erhalten. Vergeblich. Offenbar ist die Interessenvertretung der Beschäftigten hier streng in die PR des Unternehmens eingebunden, die auf Verschweigen und Mauern setzt.

Ein Gespräch mit Sabine Musiol-Wegner, nach eigenen Angaben Mitarbeiterin des VW-Betriebsrats und eher zufällig am Telefon, endete mit der Aussage: „Ich kenne ihren Verein gar nicht, ich muss ihnen gar nichts sagen“ und der patzigen Aufforderung „Recherchieren Sie mal besser!“ Betroffenheit, Fingerspitzengefühl oder Problembewusstsein waren nicht erkennbar.

Eine Anfrage, die wir am 11.02.2020 per email an Dieter Achtermann stellten, – laut Website Ansprechpartner des VW-Vertrauensleutekörpers – blieb bis heute beantwortet.

Die IG Metall Wolfsburg bemühte ihre Presseabteilung, die uns mit einer äußerst knappen Bemerkung abblitzen ließ. Eine Gabriele Friedrich schrieb: „Zu dem von ihnen beschreibenen Fall liegen uns keine Informationen vor“ (Screenshot Mail IGM vom 12.02.2020).  Die Behauptung wirkt unglaubwürdig, da Mitarbeiter*innen der IG Metall Wolfsburg bei telefonischer Kontaktaufnahme sehr wohl wussten, worum es ging, jedoch meinten „aus Datenschutzgründen“ nicht über den Vorfall sprechen zu können.

VW bestätigt Todesfall

Dabei ist die Frage, ob es in besagter Nacht überhaupt zu einem Todesfall am Band kam, längst nicht mehr strittig. Die Seite Regional heute schreibt am 26.02.2020:

„Anders als verbreitet, habe man den Leichnam jedoch nicht hinter Materialkisten versteckt, sondern mit Fahrzeugen des Werkschutzes von Beginn der Wiederbelebungsversuche, bis zum Abtransport des Leichnams durch den Bestatter, einen Sichtschutz gebildet. Hiermit habe man auch Schaulustige oder gar Fotoaufnahmen verhindern wollen.

Richtig sei indes, dass die Produktion am Band gut zehn Meter daneben weiterlief. Ein Stopp der Linie hätte „einen Rattenschwanz“ nach sich gezogen, der sich auch auf die Bänder davor und dahinter ausgewirkt hätte.“

Ein pietätvollerer Umgang wäre laut VW gar nicht möglich gewesen. Heißt: zu teuer. Ein Unternehmensprecher sagte gegenüber Regional heute:

„Ein Flugzeug fliegt auch weiter, wenn darin jemand stirbt und auch die Bahn fährt bis zum bis zum nächsten Bahnhof weiter.

Unter den industriellen Umständen wie bei VW geht das das nicht anders.“

War der Tote „nur“ ein Werkvertragler oder Leiharbeiter?

Unsere Fragen nach dem Status des verstorbenen Arbeiters beantworten weder das oben zitierte Nachrichtenportal noch VW. Auch ein Bericht im Focus, der am 28.02. 2020 Regional heute wörtlich zitiert, bringt keine Aufklärung. Handelt es sich bei dem Toten um einen Werkvertragler oder Leiharbeiter? Erklärt sich dadurch das merkwürdige Mauern?

Verlässt VW sich auf das Schweigen einer Stammbelegschaft, der es an Solidarität mit ihren ausgelagerten Kollegen mangelt? Was treiben Gewerkschaft und Betriebsrat bei VW? Ist das noch „Sozialpartnerschaft“?

Wir bitten um nähere Informationen!

VW-Beschäftigte, die mehr zum Vorgang am 10.12.2019 in Halle 12 zu berichten wissen, können diesen Beitrag gerne anonym kommentieren. Wir bitten zwecks Nachfragen jedoch eine funktionierende E-Mail-Adresse zu hinterlassen, die wir selbstverständlich vertraulich behandeln und nicht veröffentlichen. 


Anmerkungen

* Präsentismus (Krank zur Arbeit gehen) ist in Deutschland ein echtes Problem. Das Verhalten gefährdet nicht nur die Kranken selbst, sondern – bei ansteckenden Krankheiten oder durch Unfallgefahr – auch ihre Kollegen und evtl. Kundenkontakte. Gründe sind Angst vor Kündigung, Schikanen gegen Krankenrückkehrer oder völlige Überlastung mit Aufgaben. 

„Insgesamt gaben 68,6 Prozent der Befragten an, im Jahr 2016 mindestens einmal krank zur Arbeit erschienen zu sein. Pro Befragtem kamen Beschäftigte an durchschnittlich 8,7 Arbeitstagen trotz Krankheit zur Arbeit.“

Quelle: Anne Sophie Dietrich / Karolin Hiesinger: Krank zur Arbeit? Präsentismus ist in Deutschland weit verbreitet, IAB-Forum, https://www.iab-forum.de/krank-zur-arbeit-praesentismus-ist-in-deutschland-weit-verbreitet/

** Die Betriebszeitung Vor-Wärtsgang steht offensichtlich der MLPD nahe. Allerdings findet der skandalöse Vorgang bei VW weder auf der Webseite der MLPD Erwähnung, noch ist der Vor-Wärtsgang im Netz auffindbar. Über die Gründe dieses widersprüchlichen, ja unseriösen Umgangs mit der Öffentlichkeit können wir nur spekulieren. Wir halten den betreffenden Bericht im Vor-Wärtsgang dennoch für glaubwürdig.


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5 Kommentare

  1. Es wäre aufgrund der Situation ein wilder Streik nötig gewesen. Die Leute hätten einfach krank nachhause gehen sollen und sich anschließend wegen seelischer Probleme krankschreiben lassen. Das wäre die passende Antwort gewesen auf diese Scheiße!

  2. ein weiteres mal durfte ich trotz meines Schlechten Zustandes (was sich dann als Blutvergiftung herausgestellt hat) nicht nach Hause gehen!

  3. Wundert mich das? nein? Mir war auch schon so Schlecht das ich neben das Band Gekotzt habe (Volkswagen Konzern) und dann weitearbeiten mußte!

  4. Hallo Frau Reisner,
    vielen Dank für ihren sachlichen Bericht.

    Ich vertreibe den „Vorwärtsgang“ regelmäßig und bin gebeten worden mit ihnen Kontakt aufzunehmen.
    Die Zeitung „Vorwärtsgang“ ist von Kollegen selbst erstellt und finanziert. Sie arbeitet nach dem Prinzip der Überparteilichkeit, d.h. eine eventuelle Parteizugehörigkeit spielt keine Rolle und es wird niemand ausgegrenzt (ausser Nazis).
    Die Kollegen bestehen aus verständlichen Gründen auf eine vertrauliche Zusammenarbeit.

    Wenn sie weiter Interesse haben und falls sie in der Nähe (Braunschweig) zu erreichen sind, wäre mir ein persönliches Gespräch lieb. Ansonsten melden sie sich unter der u.g. Mail Adresse.
    mit freundlichen Grüßen
    Peter Kunick

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