Currenta-Explosion: Worthülsen-Bingo bei WDR „Stadtgespräch“

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Bürgernähe? Gähnende Leere. Allzu nah wollten die Leverkusener Bürgerinnen und Bürger*innen nicht ran. Der WDR hatte zwar keinen Aufwand gescheut, doch beim „Stadtgespräch“ über die Currenta-Katastrophe im Jahr 2021 auf derart uninteressante Gäste gesetzt, dass der großzügige Saal so gut wie leer blieb. (24.22.2022 WDR5-Stadtgespräch, Scala-Club Leverkusen, Foto J. Reisner CC)

Krisenkommunikation erfolgreich: WDR 5 sendet inhaltsschwaches Geplänkel statt Kritik und Transparenz

Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in NRW nur noch ein PR-Anhängsel?

War da was? Erinnert sich noch wer? Sieben Arbeiter starben infolge einer Explosion am 27. Juli 2021 in der Müllverbrennung des Chemieparks in Leverkusen ( Bayer / Lanxess u.a.). Eine gut geschmierte Krisen-PR des Betreibers Currenta und handzahme Presse sorgten dafür, dass die Katastrophe geschmeidig „aufgearbeitet“ und nach einem Jahr bereits geräuschlos entsorgt werden konnte.

Nur rund 15-20 Gäste verteilten sich am 24.11.2022 im Leverkusener Scala-Club, der für 80 Gäste bestuhlt war und in dem sicher mehrere hundert Menschen Platz finden würden. Die WDR-Crew dürfte noch einmal mit rund 10 weiteren Menschen anwesend gewesen sein. Dazu kamen die drei Talkshow-Gäste, ein Journalist und vier ziemlich gelackte Figuren, deren Zuordnung unklar blieb. Die Aufzählung dient nicht der Häme gegenüber dem WDR, sondern der Feststellung, dass die Arbeit der Currenta-Krisenkommunikation offensichtlich erschreckend gut funkioniert. Empörung, Wut oder Trauer sind nicht mehr feststellbar. Operation geglückt: Das Thema ist offenbar tot.

Der Hörfunksender WDR 5 hatte 16 Monate nach der Explosion in der Müllvernichtunsanlage der Firma Currenta in Leverkusen zum „Stadtgespräch“ geladen. Die Explosion am 27. Juli 2021 hat nicht nur sieben Arbeiter getötet. 31 weitere Personen wurden verletzt, erlitten teilweise lebensbedrohliche Verbrennungen. Das Radio-Format war die Neuauflage einer Sendung aus dem Jahr 2021 und lief unter dem Motto „Wir bleiben dran“.

Das mangelnde öffentliche Interesse dürfte auch den extrem langweiligen Gästen und deren vorhersehbar gut eingeübten Floskeln geschuldet gewesen sein: Die Bühne gehörte dem Currenta-Geschäftsführer Hans Gennen (seit 1990 bei Bayer und deren Töchtern), Horst Büther von der Bezirksregierung Köln (oder wie es auf Linkedin heißt: „Head of Unit for Pollution Control bei Regional Government Cologne“) und,  Manfred Santen von Greenpeace. Er war als einzige kritische Stimme eigens aus Hamburg angereist.


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Schwamm drüber: Agenda Cutting

Sieben Tote, lebensgefährlich Verletzte, Stadtteile, in denen es giftige Rußflocken regnete und ein mit Giftstoffen belasteter Fluss. Mehr als Achselzucken scheint das alles ein Jahr nach der Katastrophe nicht auszulösen. Das Agenda-Cutting – die Kunst, Themen von der Tagesordnung zu streichen hat scheinbar voll gegriffen. Im Jargon der PR-Branche heißt das Krisen- und Reputationsmanagement.

Dabei sind die Todesfälle, so viel kann man wohl zweifelsfrei sagen, mindestens auch auf Schlamperei bei der Informationsweitergabe zurück zu führen. So steht es in einem am 17. Juli 2022 veröffentlichten Gutachten des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums.1 Den Arbeitern lagen keine oder unzureichende Informationen zur Reaktionsfähigkeit des Mülls vor. Sie hatten vermutlich gar keine Chance, die Explosion zu verhindern.

Ein voller Erfolg in Sachen Krisenkommunikation

Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen vier Currenta-Beschäftigte wegen fahrlässiger Tötung und in sieben Fällen wegen Herbeiführens einer Explosion.2 Man kommt nicht umhin dem Krisenkommunikationsstab dennoch erfolgreiche Arbeit zu attestieren:

  • Die Namen Bayer und Lanxess tauchen in der Berichterstattung nicht auf, die Rede ist statt dessen von Currenta und bestenfalls vom „Chempark Leverkusen“. Bayer- und Lanxess-Aktionärinnen und Aktionäre dürfen sich weiter wohl fühlen.
  • Niemand zieht einen Zusammenhang zwischen der Privatisierung des Chemparks und der Katastrophe. Dabei wäre diese Frage simpel und naheliegend: Bayer hat die Müllentsorgung unter dem Namen Currenta zunächst 2002 als Tochtergesellschaft ausgegliedert, bevor 2004 die Bayer-Ausgründung Lanxess AG den Entsorger übernahm. Erst 2019 gingen die Currenta-Mehrheitsanteile an die australische Aktiengesellschaft Macquarie.
  • Das Unglück war schon nach wenigen Tagen aus den Schlagzeilen verschwunden. (Auch weil es von der Ahr-Überflutung am 14./15 Juli 2021 als scheinbar noch größerer Katastrophe mit offenbar noch mehr Behördenversagen überlagert wurde.)
  • Angehörige und Opfer wurden und werden erfolgreich aus der Öffentlichkeit gehalten.
  • Die Aufklärung des Vorfalls läuft so schleppend, dass die Masse längst das Interesse verloren hat.

Was verspricht sich eine australische Aktiengesellschaft eigentlich von der Übernahme der Currenta GmbH &Co OHG, die den Chempark mit seinen Standorten in Leverkusen, Dormagen und Krefeld-Uerdingen betreibt (60 % am 30. April 2020)? Wie kann man dort Profite machen? Das explodierte Material kam aus Dänemark. Wurden hier Arbeits- und Sicherheitsstandards gezielt abgesenkt? Welche Möglichkeiten der Pofitmaximierung gibt es sonst? Warum verkaufen Bayer oder Lanxess überhaupt ihre Müllentsorgung? Womöglich, um nachher ihre Hände in Unschuld zu waschen…

Jedenfalls scheint die PR bei Currenta wenn nicht wichtiger, so doch personell und fachlich besser aufgestellt zu sein, als der Arbeitsschutz. Currenta unterhält ein eigenes Krisenkommunikationsteam, das seine Dienste auch extern anbietet — solange gerade kein Müllofen aus eigenem Bestand in die Luft fliegt. Dessen Aufgaben:

  • Betreuung im „Ereignisfall“ (PR-Deutsch für „Katastrophe“) incl. strategischer Beratung,
  • Schreiben von Pressetexten,
  • Aufsetzen von Sprachregelungen, Wordings und Botschaften (  übersetzt „Umdeutung“, „Schönfärberei“, „Framing“)3

Das „Atelier für Mediengestaltung4 aus Köln-Mühlheim wurde von Currenta zusätzlich beauftragt, um Spekulationen in Medien und sozialen Netzwerken zuvorzukommen und das „Vertrauen in das Unternehmen und dessen Akzeptanz zu sichern“.

Ereigniswasser, Sicherheits-Kultur, Begleitkreis und Dennoch-Vorfälle

WDR Moderator Ralph Erdenberger mit Currenta-Geschäftsführer Hans Gennen (24.22.2022 WDR-Stadtgespräch, Scala-Club Leverkusen, Foto J. Reisner CC)

Transparente und schnelle Bereitstellung von Informationen spielten nach der tödlichen Explosion weder für Currenta noch für die Bezirksregierung Köln eine Rolle, kritisierte Manfred Santen, der nach dem Unglück im Juli 2021 anreiste, um selbst Proben zu nehmen. Viel zu lange war nach dem Unglück unklar geblieben, welche Substanzen explodiert und welche Schadstoffe zurückgeblieben waren.

Nach Angaben des BUND pumpte die Currenta unmittelbar nach der Detonation – Achtung, Wortschöpfung! – rund zehn Millionen Liter „Ereignis-Wasser“ in den Rhein. Gemeint sind 10 Millionen Liter mit Chemikalien kontaminiertes Löschwasser, die unter anderem das hochgiftige und in der EU verbotene Pestizid Clothianidin enthielten. 5

Unentdeckt von der Firma, geschweige denn behördlichen Kontrollinstanzen, leckte zusätzlich über Monate ein mit kontaminiertem Löschwasser gefüllter Tank. 1,3 Millionen Liter entwichen. Ohne, dass es irgendjemandem auffiel.

Noch im November 2022 herrscht bei der WDR-Veranstaltung einhellige Freude darüber, dass starker Regen die giftigen Rußflocken in die Kanalisation und ins Grundwasser gewaschen habe. Dabei hatte Greenpeace Dioxin in den Rußflocken nachweisen können. Anders als das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (LANUV) hatte Greenpeace 20 und nicht nur drei Proben untersucht. So einfach kann es sein, Informationen zu beschaffen. 6

Das alles ist natürlich ein wenig unangenehm, wenn es öffentlich wird. Hans Genner von Currenta suhlte sich beim Stadtgespräch denn auch in Verständnis für die  Sorgen, Bedenken und Nöte der Anwohner und versprach mit Transparenz Vertrauen schaffen und  – Achtung Wortschöpfung! – in einen Sicherheits-Dialog treten zu wollen.

Um Bürgerbeteiligung und Informationsaustausch zu simulieren gibt es offensichtlich auch einen Begleitkreis. Das ist eine äußerst geschickte Maßnahme: So kann man den aktiven Teil der Bevölkerung abfischen und beschäftigten, den Teilnehmenden ein Gefühl von Wichtigkeit geben und hoffentlich so kontrolliert einbinden, dass sie von kritischem Engagement außerhalb des gelenkten Zirkels Abstand nehmen.

Büther: Bevölkerung siedelte direkt an den Anlagen

100 prozentige Sicherheit will auch Horst Büther von der Kölner Bezirksregierung der Bevölkerung gar nicht erst versprechen und räumt ein, dass es trotz aller Bemühungen – Achtung Wortschöpfung! –  „Dennoch-Vorfälle“ geben könne.

Die Bevölkerung, das ist Horst Büther, bei der Bezirksregierung immerhin für die Abteilung 5 „Umwelt und Arbeitsschutz“ zuständig, wichtig festzustellen, ist selbst schuld, dass sie so nah an gefährlichen Werken wie der Bayer-Industrie und der Sondermüllverbrennungsanlage lebt. Die Leute seien wegen der Arbeitsplätze in diesen Anlagen eigens nach Leverkusen gezogen.

Dass Beschlüsse zu Bebauungsplänen Aufgabe der Verwaltung sind und Bevölkerungsschutz bei regionalen Großschadenslagen, wie sie bei Anlagen wie Sondermüllverbrennungsöfen gelegentlich zu erwarten sind, Aufgabe des Landes ist, muss ihm entfallen sein.

Fragwürdige Unternehmenskonstrukte und Leiharbeit

Konstrukte, die auf Zersplitterung von Firmen, die Auslagerung von Töchtern und an Fremdfirmen, beruhen, haben verschiedene Vorteile:

  • die Einheiten, in denen sich Beschäftigte organisieren können, werden immer kleiner
  • Betriebsratswahlen werden immer schwieriger
  • Auslagerungen ermöglichen Tarifflucht und Lohndumping
  • da jede Ausgliederung eine eigene Führungsebene unterhält, werden jede Menge Kapazitäten für hochbezahlte Bullshitjobber*innen (nach Definition David Graeber) und Versorgungspöstchen geschaffen
  • gegenseitiges Rechnungstellungen verschleiert Gewinne und hilft bei der „Gewinnoptimierung“
  • Die Verantwortung für Fehler, Katastrophen, Korruption etc. kann geleugnet, weg delegiert und verschleiert werden.

Der vermutlich der ehrlichste Moment der deprimierenden WDR-Veranstaltung: Currenta-Geschäftsführer Hans Genner erklärte, man wolle Leiharbeitern künftig bessere Unterweisungen geben, die leichter verständlich seien. Immerhin: Fachleute weisen immer wieder darauf hin, dass Leiharbeiter ein höheres Verletzungsrisiko haben, als langjährig Angestellte, die die Anlagen kennen. Von einem zukünftigen Verzicht auf Leiharbeit bei Currenta war trotzdem keine Rede.

Was ist mit den Opfern, den Verletzten, ihren Familien und Freunden?

Die rätselhafteste Frage bleibt schließlich, wie es der Currenta-Kommunikation gelingen konnte sämtliche Hinterbliebenen, Verwandten, Freunde und Freundinnen der Getöteten und lebensgefährlich Verletzten so ruhig zu stellen, dass sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden.

Es gibt nur wenige Wortmeldungen Betroffener. Im Sommer 2022 meldete sich beispielsweise der LKW-Fahrer Martin zu Wort, der zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Werksgelände war und seitdem aufgrund eines posttraumatischen Belastungstraumas arbeitsunfähig ist. Er beklagte im Juli 2022 noch keine Zahlung von Currenta erhalten zu haben.7 Angehörige der Verstorbenen dagegen sollen inzwischen Geld von Currenta bekommen haben. Über die Höhe des Betrags schweigt sich das Unternehmen aus.

Die vierte Gewalt im Staate, also unabhängige Medien, sollten dem Wischi-Waschi beauftragter Agenturen mehr Recherche und Aufklärung entgegen setzen. Die ist freilich nicht zu erwarten, wenn man ausgerechnet die Verantwortlichen der Misere zu Wort kommen lässt. Und sicher funktioniert es nicht mit Fragen, wie sie Co-Moderatorin Friedrike Müllender einem der wenigen Gäste stellte: „Was macht es mit Ihnen, wenn sie jetzt hören, dass Kontrollen öfter und unangemeldet stattfinden sollen?“

Dabei werden bei Currenta auch weiterhin Menschen verletzt: am 31. Januar 2022 gab es vier Verletzte bei einer Verpuffung. Im Februar 2022 kam es erneut zu einer Explosion, bei der allerdings ersten Meldungen zufolge niemand Verletzt wurde, sondern „nur“ eine mit 3,4-Dichlornitrobenzol gefüllte Leitung barst.8

Rund 11 Monate nach dem Unglück hat Currenta die Müllverbrennungsanlage im Juni 2022 teilweise wieder in Betrieb genommen.9

Das WDR-Stadtgespräch vom 24.11.2022 können Sie hier nachhören: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-stadtgespraech/stadtgespraech-158.html

3 Currenta Krisenkommunikation, abgerufen 28.11.2022 https://www.currenta.de/krisenkommunikation.html

4 Selbstdarstellung Krisenkommunikation für Currenta des Atelier für Mediengestaltuing https://www.afm-koeln.de/web-mobile/currenta-krisenkommunikation abgerufen 25.11.2022

5 Coordination gegen Bayer-Gefahren, Chemie-Kloake Rhein, 21.01.2022, https://www.cbgnetwork.org/7935.html

6 Greenpeace: Greenpeace findet Dioxine in Rußproben nach Chemieunfall in Leverkusen, 06.08.2022 https://presseportal.greenpeace.de/204185-greenpeace-findet-dioxine-in-russproben-nach-chemieunfall-in-leverkusen, abgerufen 28.11.2022

7 Dimitir Soibel: Vor einem Jahr zerstörte die Currenta-Explosion mein Leben, Bild, 27.07.2022, https://www.bild.de/regional/koeln/koeln-aktuell/lkw-fahrer-martin-reimann-die-currenta-explosion-zerstoerte-mein-leben-80824796.bild.html

9 Coordination gegen Bayer-Gefahren: Müll-Öfen laufen wieder an, 23.06.2022 https://www.cbgnetwork.org/8029.html


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