Brechstange Fiskalpakt

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Schuldenbremsen, Bankenrettung und Sparzwänge als Vorwand für noch mehr Arbeits-Unrecht in Europa.

Von Werner Rügemer

Weitgehend unbemerkt in der Öffentlichkeit werden in den Staaten der Europäischen Union die Arbeitsbeziehungen und Sozialsysteme noch weiter dereguliert, „reformiert“. Die Begründungen kommen aus den Konstrukten Rettungsschirm, Schuldenbremse und Fiskalpakt. Tarifverträge werden ausgehebelt, Löhne und Renten werden gesenkt, Arbeitszeiten werden verlängert, befristete Verträge werden gefördert, der Kündigungsschutz wird noch weiter gelockert. Gleichzeitig wird der öffentliche Dienst weiter verkleinert und privatisiert.
Die Begründung für diese „Reformen“ lautet bekanntlich, dass die Staatsschulden verringert werden und das wirtschaftliche Wachstum wieder angekurbelt wird. Doch die Ergebnisse sind, wie schon mit den Deregulierungen zuvor, ganz andere. Stefan Clauwaert und Isabelle Schömann haben für das Europäische Gewerkschaftsinstitut eine europaweite Auswertung erstellt: „Ungleichheit und Unsicherheit nehmen explosionsartig zu“; die jetzt noch zahlreicheren prekären Arbeitsverhältnisse bleiben prekär und führen nicht zu mehr Beschäftigung und nicht zu höherem Wachstum. Ja, es ist sogar kein kausaler Zusammenhang zwischen den „Reformen“ und den Zielen von Rettungsschirmen, Schuldenbremse und Fiskalpakt erkennbar. Sie dienen nur als Vorwand. (*1)

Antreiber: Troika und „konservative“ Regierungen

Die EU und die Regierungen, allen voran die deutsche Bundesregierung (Hartz-Gesetze), haben bekanntlich schon lange vor der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 mit der Deregulierung des Arbeitsrechts und der Arbeitsverhältnisse begonnen. Die Krise musste dann als neue Gelegenheit herhalten. So erklärte die Europäische Kommission 2010: „Mit den Flexicurity-Strategien können die Arbeitsmärkte am besten modernisiert werden, sie sind zu überarbeiten und an die Situation nach der Krise anzupassen.“ Mit Schuldenbremse und Fiskalpakt geht es weiter.


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Öffentlich sichtbare Antreiber auf internationaler Ebene sind die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und der Internationale Währungsfonds (IWF), also die sogenannte Troika. Sie schlägt am direktesten in den Staaten zu, die finanzielle Hilfen bekommen. Dabei wird gezielt undemokratisch vorgegangen: Die Troika drückt mit der jeweiligen Regierung ein „Memorandum of Understanding“ durch, so etwa in Griechenland, Spanien, Portugal, Rumänien, Lettland, an den Parlamenten vorbei. Aber auch ohne die direkte Aktivität dieser Antreiber preschen Regierungen vor, die keine europäischen Finanzhilfen bekommen. Das sind zum Beispiel Regierungen, die vor kurzem gewählt wurden und als „konservativ“ gelten, so etwa in Großbritannien (Cameron) und Ungarn (Urban).
Die neuen Deregulierungen finden vor allem in vier Bereichen statt: Arbeitszeit, atypische Beschäftigungsformen, Kündigungsregeln und Tarifverhandlungssysteme. Dabei scheuen Regierungen und Troika auch vor Rechtsbrüchen nicht zurück.

Arbeitszeit

In vielen Staaten wurde die Zahl der zulässigen Überstunden erheblich erhöht, zugleich wurde der Bezugszeitraum für die Berechnung des Überstundenausgleichs verlängert. Im Memorandum of Understanding, das die Troika mit der portugiesischen Regierung vereinbart hat, heißt es: Alle Überstundenzuschläge werden um 50 Prozent gekürzt,  Überstunden dürfen nicht mehr durch Freizeit ausgeglichen werden. In Ungarn wurde die Jahreshöchstgrenze für Überstunden von 200 auf 300 angehoben. In Polen können Unternehmen die Arbeitszeit und den Lohn kürzen sowie die Beschäftigten bis zu sechs Monate in geringer bezahlten „Untätigkeitsurlaub“ schicken. In mehreren Staaten wurden neue Varianten von Kurzarbeit eingeführt.

Atypische Beschäftigung

Im Sinne des EU-Konzepts der „Flexicurity“ (Flexibilität verbunden mit – angeblicher – Sicherung des Arbeitsplatzes) werden befristete Arbeitsverträge, Teilzeitarbeit und Leiharbeit weiter flexibilisiert und neue Arten von atypischen Arbeitsverträgen entwickelt. In Tschechien, Griechenland, Portugal, Rumänien, Spanien, Polen, Slowenien und den Niederlanden können befristete Verträge häufiger als bisher hintereinander geschaltet werden. Besonders für junge Menschen wurden neue Formen prekärer Beschäftigung eingeführt. Beim „Jugendvertrag“ in Griechenland werden junge Menschen bis zum Alter von 25 Jahren mit einem um 20 Prozent niedrigeren Lohn eingestellt, die Probezeit beträgt zwei Jahre, die Arbeitgeber führen keine Sozialabgaben ab, und am Ende des Vertrags besteht kein Anspruch auf Arbeitslosengeld. In Spanien wurde für Menschen ohne Berufsausbildung im Alter zwischen 25 und 30 Jahren (in Ausnahmen bis 34) ein Vertrag der dualen Berufsausbildung eingeführt, wobei die Arbeitgeber auch bei einer Übernahme in ein Arbeitsverhältnis weitgehend von Sozialbeiträgen befreit sind.

Kündigungsregel

Zahlreiche Regierungen haben die wirtschaftlichen Gründe weiter gefasst, mit denen die Unternehmen Einzel- und Massenkündigungen vornehmen können. Die Kündigungsfristen wurden verkürzt, die Verpflichtungen der Arbeitgeber zur Unterrichtung der Beschäftigtenvertreter wurden gelockert, die Verpflichtung zu Sozialplänen wurde  eingeschränkt. Abfindungszahlungen wurden abgesenkt. Die britische Regierung unter dem „konservativen“ Cameron ist in diesem Bereich besonders aggressiv, sie schränkte zudem den Zugang zu den Arbeitsgerichten ein, indem nun Gebühren fällig werden. Die Gebührenpflichtigkeit für den Gang zum Arbeitsgericht besteht inzwischen auch in anderen Staaten.

Tarifverhandlungssysteme

Insbesondere in den „Südländern“ Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, aber auch in osteuropäischen Ländern werden die bisher im klassischen Arbeitsrecht geltenden Tarifverhandlungssysteme unterlaufen: Dezentralisierung ist das Motto. Die Unternehmen sollen flexibler handeln können. Tarifverhandlungen werden von der nationalen Ebene auf Branchenebene und vor allem auf die einzelbetriebliche Ebene verlagert. Schlechtere Tarifverträge auf unterer Ebene brechen Verträge höherer Ebene; Juristen bezeichnen das als reformatio in pejus (die schlechtere Lösung gilt). Neben den Gewerkschaften müssen nun auch „andere Arbeitnehmervertretungs-Organe“ als Verhandlungspartner anerkannt werden, also „gelbe“ (arbeitgeberloyale oder auch arbeitgebergeförderte) Gewerkschaften und Belegschaftslisten.

Die Troika schert sich nicht um Demokratie. Im Memorandum of Unterstanding mit der griechischen Regierung heißt es: Die Regierung wird „die Kündigungsschutzvorschriften ändern und die Probezeit bei Neueinstellungen auf ein Jahr verlängern, das Gesamtniveau der Abfindungszahlungen bei Entlassungen verringern und… den Einsatz von befristeten Arbeitsverträgen und Teilzeitarbeit erleichtern.“ Damit wird nicht nur in bestehende Tarifverträge eingegriffen, sondern auch in nationale Gesetze zur Tarifautonomie. Clauwaert und Schömann weisen vorischtig darauf hin, dass wir es hier mit Rechtsbrechern zu tun haben: Sie verletzten die Rechte der EU-Grundrechte-Charta und die von den EU-Regierungen anerkannten Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der UNO. Auch einschlägige und rechtsgültige EU-Richtlinien wie die von 1999 zu befristeten Verträgen werden verletzt.

Mit noch mehr prekären Arbeitsverhältnissen lassen sich keine öffentlichen Haushalte sanieren, es kommen eher noch mehr Belastungen auf sie zu. Es geht also bei Rettungsschirmen, Schuldenbremse, Fiskalpakt und ähnlichen Instrumenten gar nicht wesentlich um das behauptete Ziel „Sanierung der Staatsfinanzen“, sondern um die finanzielle, rechtliche und moralische Entmachtung und Enteignung der Beschäftigten und Unbeschäftigten zugunsten der mächtigen Privateigentümer. Um das ganze Ausmaß zu ermessen, muss man noch die entsprechende Deregulierung der Sozialsysteme, der öffentlichen Verwaltung und der öffentlichen Infrastruktur dazurechnen.

Entsprechend muss auch der Widerstand gegen Schuldenbremsen, Banken-Rettungsschirme und Fiskalpakt gestaltet werden.

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Fußnote:

*1 Europäisches Gewerkschafts-Institut: Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten – eine Bestandsaufnahme in Europa. Brüssel 2012 (working paper 2012.04). Deutschland ist allerdings – ohne Begründung – aus der Untersuchung ausgenommen.


Der Artikel wurde in der Tageszeitung junge Welt vom 25. Juli 2012 veröffentlicht.


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