Warum spricht niemand von dysfunktionalen Zulieferketten und Mietenwahnsinn?
Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer höchst rätselhaften, in sich widersprüchlichen und geradezu verdrehten Krisen-Situation.
Einerseits sind Massenentlassungen und Werksschließungen im Gange, andererseits werden Arbeitskräfte händeringend gesucht – teils in den selben, also den kriselnden Branchen. So ergab eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, dass die deutsche Auto-Industrie im Juni 2024 immer noch durchschnittlich 10.300 unbesetzte Stellen hatte.1
Anhören, downloaden und für unkommerzielle Zwecke frei weiter verbreiten!

Die wirtschaftliche Lage erscheint um so rätselhafter, da große Teile des Establishments erkennbare Lust an einer tiefen Krise haben, um die selbstbewusster gewordenen Lohnabhängigen in Angst zu versetzen und gefügig zu machen — nach dem Vorbild von Gerhard Schröders „Agenda 2010“ und den zu Grunde liegenden Erfolgs-Narrativen „Der kranke Mann Europas“ und „Der deutsche Patient“ zieht die CDU mit einer „Agenda 2030“ in den Bundestagswahlkampf.2
Aus erster Hand informiert sein? Profis lesen Emails.Jetzt den kostenlosen Email-Newsletter der aktion ./. arbeitsunrecht ► bestellen
Der Podcast Moneycracy von Radio Corax aus Halle wies zu Recht darauf hin, dass mehr oder weniger alle Regierungswechsel der Bundesrepublik mit Wirtschaftskrisen verbunden waren – 1966, 1982, 1998…3 Und das derzeitige Krisengetrommel soll den Soundtrack des CDU-Wahlkampfs abgeben, um Friedrich „BlackRock-Atlantik-Brücke“ Merz zu installieren. Aber irgendetwas stimmt damit nicht. Dieses Krisengetrommel wirkt kampagnen-artig, konzertiert, fast fadenscheinig.
Wann hat es das jemals gegeben, dass einerseits massenhaft nicht nur Fachkräfte, sondern auch einfache Arbeitskräfte gesucht wurden, andererseits das Land vor drohenden Massenentlassungen in Panik verfiel?
Diese Massenentlassungen in der Auto-, Stahl- und Zuliefer-Industrie sind ja durchaus real. Ebenso eine Pleitewelle bei kleinen und mittelständischen Unternehmen.4 Die Krise ist einerseits spürbar – ein tiefgreifender, einschneidender Wandel, vielleicht sogar ein Paradigmenwechsel oder etwa eine technologische oder soziale Revolution? –, aber spürbar ist auch, dass die mitgelieferten Erzählungen und Deutungsmuster so nicht stimmen können.

Dabei wird folgende Erkenntnis verdrängt, weil sie für die Eliten allzu schmerzhaft ist. Weil sie nicht weniger bedeutet, als dass das Lebenswerk von Unternehmensberatern und aggressiven Investoren völlig gegen die Wand gefahren ist. Die deutsche Autoindustrie „erlebt ihren iPhone-Moment“, analysiert Lothar Becker im heute_journal: Gemeint ist, dass die einst weltmarkt-beherrschende deutsche Auto-Industrie auf ähnliche Weise Schiffbruch erleidet, wie Nokia nach der Einführung des i-Phones im Jahr 2007. Heute sind es neben Tesla, chinesische Autos, die VW, BMW, Ford und Konsorten den Garaus machen.
Das heute journal erläutert: „In klassischen Verbrenner-Autos sind Elektronik-Steuergeräte verteilt über das ganze Fahrzeug – insgesamt 150 Steuergeräte und mehr, meist zugekauft von Lieferanten der Bauteile. Dabei bedient jeder Zulieferer mit seinem Steuergerät eine andere Funktion im Auto. […] Das sei nicht etwa aus einer Not entstanden […]. Das ist bewusst geschaffen worden, um Kostendruck auf die Lieferanten aufzubauen.“ Das Problem: Auf jedem dieser Steuergeräte läuft eine eigene Software – und die kommuniziert nicht mit den anderen Steuergeräten anderer Zulieferer. „Was aktuell zum großen Problem wird und das ist struktureller Natur und hausgemacht.“5
Die chinesischen Autos und Tesla haben diese Probleme nicht. Hier funktioniert alles aus einem Guss. Das heißt: Nicht nur die Globalisierung ist am Ende, durch die Entkoppelung von China und die kriegerische Weltlage im mittleren, nahen und fernen Osten und am Roten Meer, auch das Patentrezept der neoliberalen Wirtschaftsberater ist gescheitert: Die Optimierung der Wertschöpfungskette hat sich als Sackgasse erwiesen, genauer gesagt als Rattenrennen in den Keller. Wenn der Boden erreicht ist, ist es zu Ende. Auslagerungen und Sub-Unternehmerketten fördern nicht Innovation sondern verhindern sie. Hier wird Zeit und Geld verbrannt, hier wachsen und gedeihen nur noch Bullshit-Jobs in ungeahntem Ausmaß.
Dem gegenüber ist das Krisengeschwafel von Friedrich Merz nur ein stumpfsinniger, reflexartiger Aufguss aus den Zeiten als der Mann noch jung war. So wie bei fünfzigsten Geburtstagen oder dem 25jährigen Abschluss-Jubiläum des Schul-Jahrgangs die Platten wieder gespielt werden, die wir mit 17 gehört haben. (Und meist werden uns, nebenbei bemerkt, genau die Songs als „Hits unserer Jugend“ verkauft, die wir schon damals gehasst haben.)
Wenn wir uns das aktuelle CDU-Wahlprogramm anschauen, dann steht darin nur ein einziger Satz, auf Seite 13, der in unserem Zusammenhang interessant ist: „Eigentlich könnten die Unternehmen mehr produzieren, doch dafür fehlt das Personal.“6
Ich arbeite momentan mit folgender Hypothese: Wir haben keine Wirtschaftskrise TROTZ Arbeitskräftemangels sondern eine Krise WEGEN Arbeitskräftemangels. Dass sonst niemand auf diesen Trichter zu kommen scheint, abgesehen von dem oben zitierten Spurenelement im CDU-Programm, macht mich allerdings stutzig…
Da wäre noch die Neue Zürcher Zeitung, die eine OECD-Studie verarbeitet. (Die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ umfasst 38 kapitalistische an den USA orientierte Industrieländer.) Die NZZ hebt hervor, „dass ausgerechnet Deutschland, das mit einer wirtschaftlichen Rezession kämpft, den höchsten Arbeitskräftemangel rapportiert.“ Von allen 34 befragten OECD-Ländern plus Brasilien und Südarfrika, hatte Deutschland den höchsten Wert. 36% der deutschen Unternehmen gaben an, in den vergangenen zwei Jahren Probleme gehabt zu haben, genügend Arbeitskräfte zu finden.7
Die CDU will wieder Atomkraft, das Land mit Pendlerpauschalen weiter zersiedeln, wir sollen in der Woche länger arbeiten, im Leben länger arbeiten, Arbeitslose sollen sich wieder schämen. (Bürgergeld abschaffen!) Krankschreibung gilt als Feigheit vor dem Feind. Dieser ganze Schrott… Steuersenkung für Reiche. Außerdem seien die Sozialkassen zu teuer…
In Wirklichkeit wollen sie das Gesundheitssystem, nachdem sie es über Jahre kaputt gespart haben, privatisieren, genauso wie sie den öffentlichen Nahverkehr und Schulen, die öffentliche Bildung – wie sie eigentlich alles Öffentliche, Kommunale und Kollektive aus einer tief sitzenden Verachtung vor dem Pöbel erst unterfinanzieren, verotten lassen und dann privatisieren wollen. Die Message: Seht her der Staat kann nicht wirtschaften.
Statt innovationsmüden Unternehmen auch noch Steuern zu schenken oder die Sozialbeiträge zu senken, wie wäre es mit billigem Wohnraum?
Viele Stellen sind unbesetzt, weil die Lohnabhängigen sich die Mieten in den Städten nicht mehr leisten können. Wie wäre es, Werkswohnungen zu fördern? Genossenschaften zu begünstigen, zur Not durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau Wohnungen bauen zu lassen? Leerstand konfiszieren. Lenkt das schöne Geld dort rein, anstatt es an Banken zu vergeben, die in ihrer Ideenlosigkeit damit die Immobilienblase immer weiter aufpumpen und so die Not der arbeitenden Bevölkerung auf perverse Weise verschärfen.
Oder noch eine andere Idee: Die Blase zum Platzen bringen und die Immobilien für kleines Geld aufkaufen. So wie die Commerzbank, Uniper oder die Meyer-Werft durch Verstaatlichung angeblich „gerettet“ wurden. Ich würde herunter gerockte Regionen wie Gelsenkirchen, Duisburg, Cottbus, Chemnitz, Bremerhaven, das Saarland attraktiv machen, indem dort den Kreativen ein neues Zuhause geboten würde, die es in Berlin nicht mehr aushalten. Die Programmierer*innen und Start-ups kommen nach den Musikern und Künstler*innen von selbst…
Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht. Der Verein unterstützt aktive Betriebsräte, konfliktbereite Gewerkschafter*innen und solche, die es werden wollen. Mehr infos: https://arbeitsunrecht.de/ueber-uns/
Anmerkungen, Quellen und Hintergründe:
1 „Autobauer in der Krise? Branche sucht weiter händeringend Fachkräfte, laut Studie“, Business Insider, 13.11.2024, https://www.businessinsider.de/wirtschaft/krise-autoindustrie-sucht-weiter-haenderingend-fachkraefte-laut-studie/
2 „Rolle rückwärts: Die Herausforderungen der Zeit löst die CDU mit ihrer „Agenda 2030″ nicht“, DGB, 10.1.2025, https://www.dgb.de/presse/pressemitteilungen/agenturzitat/rolle-rueckwaerts-die-herausforderungen-der-zeit-loest-die-cdu-mit-ihrer-agenda-2030-nicht/
3 „Ausgescholzt – Wirtschaftskrisen als Stolpersteine bundesdeutscher Regierungen“, MoneyCracy# 19, 23.11.2024, https://www.freie-radios.net/132004 (Die Analysen der jeweiligen Krisen sind hier leider sehr bieder und wirken wie aus gängigen Wirtschaftslehrbüchern abgeschrieben. Eine Erzählung bzw. Erklärung aus der Position arbeitenden Klasse wird nicht versucht.)
4 Gudrun Giese: Pleiten am laufenden Band, jW, 7.1.2025, https://www.jungewelt.de/artikel/491259.pleiten-am-laufenden-band.html
5 Lothar Becker: Erinnerungen an Nokia – Deutsche Autoindustrie „erlebt iPhone-Moment“, zdf heute, 1.12.2024, https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/software-ki-e-auto-industrie-100.html
6 „Politikwechsel für Deutschland“, Wahlprogramm von CDU und CSU, 17.12.2024, Seite 13. https://www.politikwechsel.cdu.de/sites/www.politikwechsel.cdu.de/files/docs/politikwechsel-fuer-deutschland-wahlprogramm-von-cdu-csu.pdf
7 Peter A. Fischer: Trotz wirtschaftlicher Normalisierung wird sich der Wettbewerb um knappe Arbeitskräfte weiter verschärfen, NZZ, 4.12.2024, https://www.nzz.ch/wirtschaft/trotz-wirtschaftlicher-normalisierung-wird-sich-der-wettbewerb-um-knappe-arbeitskraefte-weiter-verschaerfen-ld.1860682