Union Busting-News 7/23: Wolt, Trucker-Streik, Streik im UKGM, Wissenschaftszeitvertragsgesetz, Amazon, Lieferando

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Union Busting-News mit Jessica Reisner. Arbeitsunrecht und Betriebsratsbehinderung in Deutschland.

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Wolt: Rider warten auf Lohn

Berlin: Fahrerinnen und Fahrer des Lieferdienstes Wolt protestierten am 05. April 2023 in Berlin, um ausstehende Löhne einzufordern.

In einem Aufruf, der in sozialen Netzwerken verbreitet wird, werfen die anonymen Organisator*innen des Protests dem Unternehmen unfaire Arbeitsbedingungen vor: 120 migrantischen Fahrer*innen wurde in den letzten Monaten der Lohn verweigert. Sie kämpfen um Forderungen von mehreren 100.000 Euro. Die betroffenen Beschäftigten seien Opfer eines ausbeuterischen Subunternehmer-Systems bei Wolt, zitiert der Tagesspiegel.1


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Lieferando sabotiert Betriebsversammlung

Berlin: Der Lieferando-Betriebsrat hatte für Samstag 01.04.2023 rund 1200 Fahrerinnen und Fahrer zu einer Betriebsversammlung eingeladen. Die Räume, gemietet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, so berichten Rider, hätten laut Vertrag per Vorkasse von Lieferando bezahlt werden sollen. Die Zahlung blieb laut Berichten jedoch aus. Die Betriebsversammlung konnte trotzdem stattfinden. Dennoch handelt es sich unserer Einschätzung nach um einen klaren Fall von Union Busting:

1. Lieferando stresst die Betriebsratsmitglieder vorsätzlich, weil mit dem Raumvermieter wegen des fehlendem Zahlungeingang gesprochen werden muss

2. Lieferando schädigt den Ruf der eigenen Firma aber auch des Betriebsrats, weil Vermieter sich auf Zahlungszusagen der Firma offensichtlich nicht verlassen können

3. Lieferando sabotiert die Betriebsversammlung, indem unter den Beschäftigten Unklarheit gesät wird, ob die Versammlung überhaupt stattfinden kann

Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Schlimmer geht immer

Deutschland: Dem Bundesbericht für wissenschaftlichen Nachwuchs zufolge arbeiten 92 Prozent aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter 45 Jahren in befristeten Anstellungen.

Diese Bedingungen schaffen ein „Wissenschaftsprekariat“ ohne Perspektive, so Kristin Eichhorn von der Initiative #ichbinhanna. Die Gruppe ist ein Verbund Forschender und Lehrender, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Denn die Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind in vielen Ländern deutlich attraktiver als in Deutschland. 2

Eine Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetz sollte Abhilfe schaffen. Doch innerhalb weniger Tage unterschrieben mehr als 2500 Professorinnen und Professoren in einer öffentlichen Unterschriftenliste gegen das Gesetz. Sie kritisieren die unrealistische Zahl von höchstens drei Jahren Befristung um sich nach der Doktorarbeit für eine Professur zu qualifizieren.

Auf viele Hochqualifizierte wartet nach jahrelangen Kettenbefristungen das Karriere-Aus in der Wissenschaft. Sie müssen sich im Alter von Ende 30, Anfang 40 beruflich umorientieren und gehen dem Wissenschaftsstandort verloren. Die ständigen Existenzängste sind belastend, dazu kommt, dass unsichere Einkommensverhältnisse langfristige Planung und z.B. Vertragsunterzeichnungen bei Vermietern erschweren.

Die Befristungspolitik der Universitäten schlägt aber auch auf die Forschungsqualität durch. Das zeigt ein Aufsatz, der in der Fachzeitschrift „Nature“ erschienen ist. Aufgrund zu kurzer Laufzeiten von Verträgen würden Forschungsprojekte nicht zu Ende geführt – oder Kompetenz gehe verloren, weil Mitglieder von Forschungsgruppen diese vorzeitig verlassen, heißt es dort.3

Streik osteuropäischer Trucker

Autobahnraststätte Gräfenhausen-West bei Darmstadt: Mehr als 50 vor allem usbekische und georgische Fahrer haben ihre Lkws abgestellt und weigern sich weiterzufahren. Der Grund sind nicht bezahlte Löhne, von bis zu 4.000,- Euro für einzelne Fahrer. Darüber berichtet unter anderem der Deutschlandfunk. 4 5

Gräfenhausen ist der Hauptort des Protests. Kleinere Versammlungen gibt es auch an Raststätten in Niedersachsen und in der Schweiz. Die ersten Fahrer streiken bereits seit 20. März 2023. Seit dem haben sich weitere Fahrer dem Protest angeschlossen. Es ist ein spontaner Streik, initiiert von Fahrern, die als Drittstaatler am untersten Ende der Ausbeutungskette stehen. In einer Branche, in der ohnehin extreme Arbeitsbedingungen herrschen.

Die mutmaßlich säumige polnische Unternehmensgruppe Mazur hat ihren Sitz nahe Krakau. Mehr als 1.000 Fahrzeuge soll das Unternehmen auf den Straßen haben und transportiert damit Waren im Auftrag großer europäischer Speditionen und Firmen. Die Fahrer sind Schein-Selbstständige. Sie tragen das wirtschaftliche Risiko.

Die Unternehmerfamilie hat reagiert und laut Deutschlandfunk neue Fahrer mit Kleinbussen zu der Raststätte bringen lassen. Die Streikenden sollten gefeuert und ersetzt werden. Doch die eigens herangekarrten Fahrer weigerten sich und ließen sich nicht als Streikbrecher einspannen.

Die Großspedition findet in Polen schon längst keine Fahrer mehr. Deswegen werden Fahrer aus Usbekistan und Georgien gesucht, die nicht ahnen, was sie erwartet. Ein Fahrer erzählt, dass er 15 Monate ununterbrochen unterwegs war. Damit der illegale Aufenthalt während der 48-Stunden-Pause im LKW nicht registriert werden kann, gibt das Unternehmen laut einem Fahrer genaue Anweisungen zur Manipulation des Fahrtenschreibers.

Streik für Entlastung im UKGM

Marburg-Gießen: Die Beschäftigten des Uni-Klinikums Marburg-Gießen (UKGM) streiken für einen Entlastungstarifvertrag. Das berichtet die Webseite Riffreporter. Es ist das erste und einzige privatisierte Universitätsklinikum in Deutschland. Im UKGM arbeiten mehr als 9600 Menschen, davon mehr als 7000 in nicht-ärztlichen Berufen. Die Klinik wird von der Rhön-Klinikum-Aktiengesellschaft betrieben, die zum Asklepios-Konzern, einer GmbH & Co. KGAa, gehört.

Das derzeitige Gesundheitssystem setzt, genau wie Aktienkonzerne, zum Schaden von Beschäftigten und Patienten auf maximale finanzielle Ausbeutung. Wenn aber immer weniger Beschäftigte in immer kürzerer Zeit immer mehr abrechenbare medizinische Leistungen erbringen, leidet die Qualität. Die Beschäftigten versuchen dennoch die medizinischen Standards zu halten und gehen dafür oft über ihre Belastungsgrenzen. Sie bezahlen für diesen Einsatz mit chronischem Stress, nicht selten bis zum Burn Out 6

Trotz der bekannten Probleme hat das Land Hessen mit dem UKGM einen Zukunftsvertrag geschlossen, nachdem Hessen in den nächsten 10 Jahren 850 Millionen Euro investieren wird. Für Personal soll dieses Geld jedoch nicht ausgegeben werden.

Verdi kritisiert, dass z.B. Beschäftigte der Service-GmbH (Reinigung, Küche, Technik) nicht genügend geschützt seien und keine verbindlichen Standards für die Personalbemessung enthalten. Das Management des UKGM geht davon aus, dass für die Entlastung 300-400 Vollzeitstellen geschaffen werden müssten. Wir wünschen den Streikenden viel Erfolg und dass sie die dringend nötige Entlastung für sich durchsetzen mögen.

Amazon in Winsen feuert Betriebsratsmitglied

Niedersachsen: Das Management des Amazon-Lagers in Winsen versucht den Betriebsratsvorsitzenden Detlev B. zu kündigen. Der Betriebsrat vertritt die Interessen von rund 1900 Beschäftigten am Standort und hat der Kündigung natürlich nicht zugestimmt. Amazon hat deswegen ein Zustimmungsersetzungsverfahren beim Arbeitsgericht Lüneburg beantragt. Die Verhandlung fand am 05.04.2023 statt.

Die Kündigungsschutzklage des Betriebsratsvorsitzenden ging verloren. Das Mandat auf Seiten von Amazon hatte Thomas Barth von der Union Busting-Kanzlei Eversheds Sutherland. Der Betriebsratsvorsitzende wird vermutlich in in die nächste Instanz gehen. 7

Die Staatskanzlei Niedersachsen sagte unterdessen einen Besuch von Ministerpräsident Stephan Weil, SPD, bei Amazon in Winsen ab.8 Amazon hatte ihn ursprünglich zu einer Betriebsbesichtigung eingeladen. Stephan Weil wollte bei dieser Gelegenheit auch mit dem Betriebsrat sprechen. Als Amazon dann den Besuch verschieben wollte, sagte die Staatskanzlei ganz ab.

Zu Guter letzte streikten die Kolleginnen und Kollegen bei Amazon in Winsen am 03.04.23. auch noch. Ganz schön viel unbequeme Nachrichten und unangenehme Aufmerksamkeit für Amazon! Da wird man wohl wieder in reichlich Werbung investieren müssen.

Wir senden solidarische Grüße und wünschen stabilen Zusammenhalt!

Quellen


1Christoph M. Kluge: Arbeitskampf jetzt auch bei Wolt: Protest gegen einen Subunternehmer des Lieferdienstes in Berlin, Tagesspiegel, 04.04.2023 https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-wirtschaft/arbeitskampf-jetzt-auch-bei-wolt-protest-gegen-einen-subunternehmer-des-lieferdienstes-in-berlin-9609020.html

3 Nature: Quality research needs good working conditions, abgerufen 05.04.2023, https://www.nature.com/articles/s41562-022-01508-2.epdf

4 Deutschlandfunk: Ausbeutung – Osteuropäische LKW-Fahrer streiken für ihren Lohn, https://www.deutschlandfunk.de/ausbeutung-osteuropaeische-lkw-fahrer-streiken-fuer-ihren-lohn-dlf-9234c051-100.html

5 Hessenschau. Osteuropäische Lkw-Fahrer streiken bei Darmstadt, 30.03.2023 https://www.hessenschau.de/tv-sendung/osteuropaeische-lkw-fahrer-streiken-bei-darmstadt,video-181504.html

6 RiffReporter: Streik in den Kliniken – für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Patientenwohl, 31.03.2023

7 Weser-Kurier: Gericht stimmt Entlassung von Amazon-Betriebsratschef zu, 05.04.2023 https://www.weser-kurier.de/deutschland-welt/gericht-stimmt-entlassung-von-amazon-betriebsratschef-zu-doc7pmwkd46rnm1buzvh99a

8 Hans Herbert Jenkel: Amazon versus Betriebsrats-Chef vorm Arbeitsgericht, Winsener Anzeiger 27.03.2023, abgerufen 03.04.2023 https://www.winsener-anzeiger.de/lokales/602128-amazon-versus-betriebsrats-chef/


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