Was Arbeitsgerichte durchgehen lassen

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Nach dem Emmely-Urteil vor dem Bundesarbeitsgericht berichtete die deutsche Presse kritisch über Fälle von Verdachtskündigung

Leider scheint die kritische Berichterstattung seitdem ins Stocken geraten zu sein. Wir dokumentieren einen Artikel aus der Neuen Westfälischen vom 8. November 2010.

Es geht um 3 verschenkte Schrauben in Bonn, eine Feier zum 40. Dienstjubiläum bei der DB, das Aufladen eines Elektrorollers in der Firma (Verlust 1,8 Cent), und das Versenden von beachtlichen 16.000 SMS in einer Catering-Firma. Alle hatten fristlose Kündigungen zur Folge, die teilweise von Arbeitsgerichten oder Landesarbeitsgerichten kassiert wurden.

Kündigung für drei verschenkte Schrauben

Nach dem Fall „Emmely“: Was Arbeitsrichter den Arbeitgebern durchgehen lassen


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Bielefeld. Nur wenige Monate ist es her, dass der „Fall Emmely“ vom Bundesarbeitsgericht zugunsten der 52-jährigen Kassiererin entschieden worden ist. Sie durfte ihren Arbeitsplatz behalten, obwohl sie zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unberechtigt eingelöst hatte, sich nach der Entdeckung in Widersprüche verwickelte und sogar Kolleginnen beschuldigte. Gehen Arbeitsrichter seitdem milder mit Beschäftigten um, die ihren Arbeitgeber „betuppen“? Vier frische Beispiele:

In Bonn hatte ein Betriebsratsvorsitzender einem ehemaligen Kollegen drei Schrauben im Wert von 28 Cent geschenkt. Er hatte sie sich aus der Materialausgabe unter dem Vorwand geben lassen, dass er sie für eine bestimmte Maschine im Betrieb benötigte. Der Arbeitgeber erfuhr davon und kündigte – zu Unrecht wie das Arbeitsgericht Bonn meint. Zwar könne auch grundsätzlich der Diebstahl eines geringwertigen Gegenstandes das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zerstören. Jedoch sei stets der Einzelfall genau zu prüfen – insbesondere, wenn es sich um ein Betriebsratsmitglied handelt, das nur mit Zustimmung des Betriebsrats entlassen werden kann. AZ: 1 BV 47/10

Eine Angestellte der Deutschen Bahn feierte ihr 40-jähriges Dienstjubiläum im Kollegenkreis. Zu diesem Anlass gibt es bei der DB die Regelung, dass nachgewiesene Bewirtungskosten bis zur Höhe von 250 Euro erstattet werden. Die Frau reichte eine „Gefälligkeits-Quittung“ über 250 Euro ein, die ihr Catering-Unternehmen ausgestellt hatte. Tatsächlich hatte sie jedoch nur 90 Euro für die Bewirtung ihrer Kolleginnen und Kollegen bezahlt. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zeigte sich gnädig. Weil die Frau „nicht regelmäßig mit Gelddingen zu tun“ habe, außerdem 40 Jahre unbeanstandet für die Bahn tätig war und sofort eingeräumt hatte, einen „Fehler gemacht“ zu haben, sei das Vertrauenspotenzial nicht aufgebraucht. AZ: 2 Sa 509/10

Ein sei 20 Jahren in einem Unternehmen beschäftigter Netzwerkadministrator wurde entlassen, weil er seinen Elektroroller (Segway) im Betrieb aufgeladen und dadurch einen „Verlust“ von 1,8 Cent zu Lasten der Firma verursacht hatte. Wie die Vorinstanz hat auch das Landesarbeitsgericht Hamm die Kündigung für unwirksam erklärt. Die Interessenabwägung – lang andauernde, beanstandungsfreie Beschäftigung und der geringe Schaden – fiel zu Gunsten des Mitarbeiters aus. Dies auch mit Blick darauf, dass im Betrieb Handys aufgeladen und elektronische Bilderrahmen betrieben wurden, der Arbeitgeber aber dagegen nicht vorgegangen sei. AZ: 16 Sa 260/10

Auch wenn ein Mitarbeiter einer Catering-Firma über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren 16.000 private Kurznachrichten von seinem Diensthandy aus versendet hat, darf sein Arbeitgeber ihn nicht fristlos entlassen. Das gelte jedenfalls dann, wenn das Unternehmen erst nach 22 Monaten eingreift und ihn direkt vor die Tür setzt. War aus den sehr hohen Monatsabrechnungen jeweils zu erkennen, dass der Angestellte das Handy missbräuchlich nutzt, so hätte der Arbeitgeber direkt eingreifen und ihn abmahnen müssen. In dem konkreten Fall vor dem Arbeitsgericht Frankfurt hatte der Mann einen Schaden in Höhe von 2.500 Euro verursacht – aber seinen Arbeitsplatz behalte. AZ: ArG Frankfurt, 24 Ca 1697/10


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