Kündigungsrecht außer Kontrolle

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Eine Zusammenstellung von skandalösen Kündigungen aus dem Jahr 2009

Fristlose Kündigungen wegen einer Bulette und zwei halben Brötchen, vier Maultaschen, dem Verzehr einer Tamarillo. Müllmann nimmt ein ausgedientes Reisebett vom Sperrmüll, Busfahrerin bremst für eine Kröte. Geschäftsführer fotografiert Mitarbeiter mit runtergelassener auf dem Klo und kündigt ihn wegen eines Nickerchens.

Die Debatte um fristlose Kündigungen wegen Nichtigkeiten zeigt jedoch, dass das Kündigungsrecht in Deutschland derzeit außer Lot geraten scheint,

schreibt Markus Schleufe in der ZEIT vom 22. Oktober 2009 Wir dokumentieren seinen Beitrag: 

Kündigungsrecht außer Kontrolle

In den letzten Wochen sorgten fristlose Kündigungen wegen Bagatellen für Schlagzeilen. Welche Kündigungskultur herrscht in Deutschland?


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Mal wandern kleine Buletten oder Maultaschen in den Magen, mal zwei Pfandbons in die eigene Tasche. Es sind Lappalien, Bagatellen, Kleinigkeiten – könnte man denken. Doch der kleine Happen oder das eine oder andere Mitbringsel auf Firmenkosten kann heftige Folgen haben, auch wenn dies manchem Angestellten gar nicht bewusst ist.

Genauso erging es auch Magdalene H., die sich vom Catering-Buffet eine Bulette und zwei halbe Brötchen nahm und dafür nach über 34 Jahren Beschäftigung in dem Unternehmen prompt die Kündigung von ihrem Chef bekam. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass sich Magdalene H. des Diebstahls schuldig gemacht hätte. Der Bitte auf Rücknahme der Kündigung wurde mit der Begründung, das Vertrauensverhältnis sei unwiederbringlich zerstört, bis heute nicht stattgegeben.

Auch einer Altenpflegerin aus Konstanz, die von ihrem Arbeitsplatz vier Maultaschen mitgenommen hatte, widerfuhr ähnliches. Auch ihr Arbeitgeber wertete die Mitnahme der Maultaschen, die übrig geblieben waren und eigentlich in den Müll wandern sollten, als Diebstahl und kündigte der Betroffenen fristlos.

„In diesen Fällen geht es um die Kündigung wegen geringfügiger Vermögensdelikte“, erklärt Ulf Weigelt, Fachanwalt für Arbeitsrecht. Diebstahl und Unterschlagung auch nur geringfügiger Sachen, berechtigen den Arbeitgeber, auch bei nur bloßem Verdacht vom Grundsatz her zur fristlosen Kündigung und zwar ohne vorheriger Abmahnung. Das Bundesarbeitgericht geht von einem irreparablen Vertrauensschaden aus. „Seit dem sogenannten Bienenstichfall ist für Juristen klar, dass es nicht auf den Wert der Sache ankommen kann“, sagt der Arbeitsrechtler. Im Rahmen einer Interessenabwägung dürfe man im Falle von Magdalene H. die über 34-jährige Beschäftigungszeit nicht außer Acht lassen. Immerhin räumte der Arbeitgeber später ein, ihm täte die Kündigung leid. Zurückgenommen wurde die Kündigung dennoch nicht.

Auch im Maultaschenfall bestätigte ein Gericht die Rechtmäßigkeit der Kündigung. Als maßgeblich stellte sich hier im Nachhinein heraus, dass die Beschuldigte trotz Verbot des Arbeitgebers des Öfteren übrig gebliebene Essensreste mitgenommen hatte. Weniger bekannt wurde der Fall eines Betriebsrates, der im Logistiklager eines Brandenburger Unternehmens eine Tamarillo gegessen haben soll und dabei erwischt wurde. Auch er kassierte eine fristlose Kündigung.

„Auch dieser Fall passt in die aktuelle Diskussion“, sagt Ulf Weigelt. „Unabhängig davon, dass zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer streitig ist, ob die Tamarillo-Frucht tatsächlich gegessen wurde, so ist schnell klar, dass der Arbeitgeber hier über das Ziel hinausgeschossen ist.“ Ob das Vertrauen nachhaltig so stark zerstört ist, dass einem Betriebsrat, der jahrelang im Betrieb beanstandungsfrei beschäftigt war, fristlos gekündigt werden muss, sieht Weigelt als problematisch an. Zumal der Mann wiederholt versicherte, er habe die Frucht nicht gegessen. „Der Arbeitgeber wird sich auch die Frage gefallen lassen müssen, warum er sogleich die fristlose Kündigung erzwingen will“, vermutet Arbeitsrechtler Weigelt.

Ein weiterer Fall, der Landesweit Schlagzeilen machte, war der Fall „Emmely“. Die Kassiererin aus Berlin hatte zwei Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro in die eigene Tasche wandern lassen. Auch ihr wurde fristlos gekündigt. Abgeschlossen ist der Fall damit aber noch nicht: Einer Beschwerde der Betroffenen vor dem Bundesarbeitsgerichts wurde stattgegeben, das abschließende Urteil wird im Februar 2010 erwartet.

Ermutigt der Fall Arbeitgeber seither dazu, Bagatellen zum Anlass zu nehmen, um verstärkt fristlose Kündigungen auszusprechen? Der Verdacht bestätigt sich bei genauerer Analyse der Fälle nicht. Denn die Aussicht auf Erfolg für den Arbeitgeber ist nur selten gegeben. „Grundsätzlich greift eine fristlose Kündigung nur dann, wenn der Arbeitnehmer annehmen durfte, der Arbeitgeber werde sein Verhalten nicht tolerieren. Und das sieht unter Umständen bei einem Tamarillo essenden Betriebsratsmitglied eben anders aus als bei einer Kassiererin. Kündigungen sind meist Einzelfallentscheidungen der Gerichte“, betont Ulf Weigelt.

So entschieden die Gerichte in einem anderen Fall zugunsten des Arbeitnehmers: Ein Müllmann hatte ein ausgedientes Reisebett vom Sperrmüll mitgenommen. Auch ihm wurde gekündigt. Seine Arbeitslosigkeit währte aber nur kurz, denn ein Gericht entschied, dass der Mann zwar Diebstahl begangen hatte, es aber im Betrieb gang und gäbe gewesen sei, dass Gegenstände nach Nachfragen mitgenommen werden durften. Letztlich, so erklärte das Gericht, hätte er das Bett mitnehmen dürfen, hätte er um Erlaubnis gefragt. Das hatte der Müllmann jedoch nicht getan. Am Ende überwogen die Interessen des Arbeitnehmers gegenüber der Geringfügigkeit des Verstoßes. Die Kündigung wurde per Gerichtsbeschluss als unverhältnismäßig zurückgewiesen, der Arbeiter darf wieder in seinem alten Betrieb arbeiten.

Wiederum ganz anders fiel die Entscheidung im Fall einer Busfahrerin aus, die im April diesen Jahres ihren Job verlor, weil Sie während ihrer Tour eine Kröte von der Fahrbahn rettete. Die Tierliebe in allen Ehren, aber das Gericht sah die Tat als Verstoß an. Mittlerweile ist der Arbeitgeber der Busfahrerin jedoch zurückgerudert und hat der tierlieben Busfahrerin eine Rückkehr in Aussicht gestellt – unter der Bedingung, dass sie ihre Arbeitseinstellung ändere und zukünftig auf derartige Rettungsaktionen verzichte.

Und noch ein Fall mutet kurios an: Während eines Kontrollgangs erwischte der über 80 Jahre alte Geschäftsführer einen seiner Angestellten dabei, wie dieser in einer verschlossenen Kabine mit nicht ausgezogener Hose auf dem Toilettendeckel saß und anscheinend ein Schläfchen abhielt. Der Geschäftsführer fotografierte den Kläger über die verschlossene Tür und forderte ihn harsch auf, sich in die Personalabteilung zu begeben. Dieser bestritt das Nickerchen und gab an, aufgrund von Magenbeschwerden eine fünfminütige Sitzpause verbracht zu haben. Dennoch erhielt er die fristlose Kündigung.

„Wer einmalig am Arbeitsplatz schläft, darf nicht gekündigt werden. Dagegen spricht die jahrelange Betriebszugehörigkeit im konkreten Fall, wie das LAG Hamm entschied“, erklärt Ulf Weigelt. Das Landesarbeitsgericht sah den Mittagsschlaf Mannes auch nicht als erwiesen an. Der Mann durfte seinen Job behalten und nahm Rache: „Der Kläger beantragte aufgrund der Verletzung seiner Intimsphäre die Auflösung des Arbeitsverhältnisses und bekam vom Gericht einen Abfindungsbetrag von rund 24.000 Euro zugesprochen“, erzählt Weigelt.

Auch wenn der Arbeitnehmer in diesem Fall als doppelter Sieger hervorging: In den vergangenen Wochen und Monaten musste mancher Arbeitnehmer für vergleichsweise geringe Vergehen am Arbeitsplatz einen oft hohen Preis bezahlen. Die langjährige Betriebszugehörigkeit interessierte, so scheint es, weder den Arbeitgeber, noch den zuständigen Richter. Ganz richtig ist diese Perspektive aber nicht: In manchen Fällen war die Bagatelle nur die Spitze auf einem Eisberg von Verstößen der fristlos gekündigten Arbeitnehmer.

Die Debatte um fristlose Kündigungen wegen Nichtigkeiten zeigt jedoch, dass das Kündigungsrecht in Deutschland derzeit außer Lot geraten scheint – zwischen den Interessen der Arbeitgeber und der der Arbeitnehmer. Und bei diesen Ausschlägen macht sich auf beiden Seiten ein ungutes Gefühl in der Magengegend breit, und das nicht, weil die unrechtmäßig vom Buffet genommene Bulette das Haltbarkeitsdatum überschritten hat.


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1 Kommentar

  1. Ich finde es wirklich klasse, dass Sie sich all diese Mühe machen und die Informationen aufbereitet für uns präsentieren. Weiter so!

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