Vorläufer der Betriebsräte in Deutschland: Matrosenunruhen 1917 in Wilhelmshaven leuten Ende des 1. Weltkriegs ein
Gedenken an politisch motivierte Justizmorde
Am 5. September 1917 erschoss das kaiserliche Militär die Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis auf einem Truppenübungsplatz in Porz-Wahn bei Köln. Sie hatten mitten im 1. Weltkrieg eine Organisierung unter Marine-Besatzungen voran getrieben. Man wählte unabhängige Vertrauensleute – damals ein subversiver Akt, der keine rechtliche Grundlage hatte. Die Selbst-Organisierung kaiserlicher Marine-Soldaten erfasste zahlreiche der 60 großen Kriegsschiffe in Wilhelmshaven und Kiel.
Durch friedliche Protestaktionen und zivilen Ungehorsam wollten die Matrosen in Wilhelmshaven einen Funken zünden, der auf andere Truppenteile überspringen sollte. Sie verließen Anfang August 1917 geschlossen in Mannschaftsstärke – entgegen anders lautender Befehle – ihre Schiffe und marschierten zu mehreren Hundert unbewaffnet für zwei Stunden durch die Stadt.
Für demokratische Arbeitsbeziehungen
Die Matrosen wollten ein Ende des sinnlosen Mordens durch sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und einen Frieden ohne Landgewinne und Reparationszahlungen. Damals starben im Durchschnitt 1.200 deutsche Soldaten pro Tag. Bevölkerung und Soldaten hungerten.
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Die Besatzungen der Schlachtschiffe Friedrich der Große und Prinzregent Luitpold wandten sich im August 1917 außerdem gegen die miserable Ernährung auf den Schiffen. Die hart arbeitende Besatzung bekam ungenießbaren Fraß vorgesetzt, während Offiziere in ihren Kasinos weiterhin fürstlich speisten. Die Matrosen wollten außerdem Schikanen, Misshandlungen und sinnlosen Drill durch ihre Vorgesetzten beenden.
Nach einem abgekarteten Prozess, falschen Anschuldigungen und gefälschten Aussagen verurteilte ein Kriegsgericht sechs Matrosen als vermeintliche Rädelsführer einer angeblichen Meuterei zum Tode. Tatsächlich hatte es sich eher um eine Art Warnstreik gehandelt, vielleicht auch nur eine „aktive Pause“. Vier Urteile wurden in langjährige Zuchthausstrafen umgewandelt.
Die Hinrichtung von Max Reichpietsch und Albin Köbis wurde insgeheim im entfernten Kölner Hinterland durchgeführt und blieb Politikern und Öffentlichkeit einen Monat lang unbekannt.
Die Anschuldigungen gegen die beiden erwiesen sich als unhaltbar. Der Fall gilt heute als politisch motiverter Justizmord. Die Admiralität wollte Todesurteile, um ein Übergreifen der russischen Revolution vom Februar 1917 auf Deutschland mit aller Härte zu ersticken.
Doch die gewünschte Abschreckung war von kurzer Dauer: Ein Jahr später meuterten die deutschen Marinesoldaten und trugen die Novemberrevolution 1918 von Kiel und Wilhelmshaven aus nach Deutschland. Diesmal unter Waffen.
Das oben stehende Foto ist das älteste uns bekannte Bild eines Betriebsrats in Deutschland. Auf der „Prinzregent Luitpold“, wo Albin Köbis als Heizer Dienst getan hatte, gründete sich am 6. November 1918 – ein Jahr nach seiner Hinrichtung – einer der ersten Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands.
Wir gedenken der Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis mit Bewunderung.
Ihr Beispiel mahnt uns, mutig zu sein und solidarisch für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung zu kämpfen.
Mehr lesen + hören
- Elmar Wigand: Gedenken an revolutionäre Matrosen. Veranstaltung zum 100. Jahrestag der Hinrichtung von Max Reichpietsch und Albin Köbis in Köln, junge Welt 06.09.2017 | https://www.jungewelt.de/artikel/317668.gedenken-an-revolution%C3%A4re-matrosen.html
- Stephanie Scholz: Vor 100 Jahren organisierten sich Matrosen gegen den Krieg. Radio-Interview mit Elmar Wigand, Radio Corax, 5. September 2017, 16:22 Minuten | https://www.freie-radios.net/84790
- Leo Schwarz: »Wir sind Sozialrevolutionäre«, junge Welt 05.09.2017 | https://www.jungewelt.de/artikel/317636.wir-sind-sozialrevolution%C3%A4re.html?sstr=Matrosen%7CWilhelmshaven
- Robert Rosentreter: Es ging keineswegs nur um Suppe. Vor 90 Jahren: Unruhen in der kaiserlichen Marine – Vorboten der Novemberrevolution, neues deutschland, 28.07.2007 | https://www.neues-deutschland.de/artikel/113584.es-ging-keineswegs-nur-um-suppe.html
- Stephanie Jaeckel: Widerstand auf Straßenschildern (1) – Reichpietschufer, Kreuzberger Chronik, Juni 2001 | http://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2001/juni/strasse.html
- Stefan Appelius und Wolfgang Stelljes: Vier Stunden Protest, 1992 | http://www.appelius.de/vier_stunden_protest.html
- Rüstzeit für Offiziere, Der Spiegel 49/1958, 3.12.1958 | http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42620967.html