Amazon + Starbucks: Millionen-Entschädigung für unterschlagenes Trinkgeld in USA

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Sammelklagen gegen kriminelle Unternehmen müssen auch in Deutschland möglich sein! Gerade im Arbeitsrecht.

Ein Kommentar von Elmar Wigand. 

3.10.2018. Spatenstich für das Amazon-Lager in Bessemer, Alabama
3.10.2018. Spatenstich für das Amazon-Lager in Bessemer, Alabama. Zweieinhalb Jahre später, im Februar 2021, fanden hier die ersten Wahlen für eine Gewerkschaftsvertretung bei Amazon in den USA statt. (Foto: Wikicommons)

Wie verkommen muss ein milliardenschwerer Konzern sein, seine Beschäftigten systematisch um Trinkgeld zu betrügen? In den USA stimmte Amazon am 2. Februar 2021 einem Vergleich mit der US-Verbraucherschutzbehörde FTC zu und zahlt 61,7 Mio. US-Dollar an Paket-Fahrer von Amazon Flex zurück.1 Bereits im Jahr 2008 verurteilte eine US-Richterin die Kaffee-Kette Starbucks wegen systematischer Trinkgeld-Unterschlagung zur Zahlung von 100 Mio. USD. Rund 100.000 Beschäftigte sollten aus einem Fonds entschädigt werden, in den Starbucks einzahlt.2

Jahrelanger Betrug beim Trinkgeld. Was ist das für ein Wirtschaftssystem, in dem solche Marken wie Fett auf der Suppe schwimmen? Moment… Es wird doch wohl nicht an Seattle liegen, wo die Firmenzentralen von Amazon und Starbucks sind…? Weht der Geist des Geizes durch die Stadt, in der Grunge-Rock erfunden wurde, wo neben dem Sub-Pop Label (Nirvana, Sonic Youth) auch Microsoft (Bill Gates) sitzt?

Der kleine Staat Washington im Nordwesten der USA erhebt zwar keine Unternehmenssteuern, gilt aber nicht als ausgewiesene Steueroase wie Delaware. Die Donald-Duck-Mentalität, auch Pfennigbeträge nicht gering zu schätzen, dürfte Jeff Bezos von der Wall Street mitgebracht haben. Bevor er Amazon gründete war er stellvertretender Chef des Hedgefonds D. E. Shaw & Co. Auch globale Consulting-Firmen und Rechnungsprüfer helfen gegen üppige Stundensätze gerne bei der optimalen (und nicht immer ganz legalen) Auspressung derer, die ganz unten in der Nahrungskette stehen.


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Die Erschaffung eines digitalen Sub-Proletariats

Im konkreten Fall baut Amazon Flex einen Lieferdienst nach dem Vorbild von Uber auf. Privatleute können sich dort einloggen und fahren. Ihnen wurden 18-25 Dollar Stundenlohn versprochen.3 Die Amazon-PR rühmt sich auch noch, die höchsten Stundenlöhne aller Liefedienste zu zahlen. Aber: Wenn die Fahrer ihr Stundensoll nicht geschafft hatten, wurde mit dem Trinkgeld aufgefüllt, dass die Kunden online vergeben können.

Die US-Verbraucherschutzbehörde schaltete sich vermutlich ein, weil Amazon auch die Kunden betrogen und missbraucht hat, die in gutem Glauben einen Teil der garantierten Lohnkosten übernahmen, obwohl sie den Boten doch ein Extra zukommen lassen wollten.

Was die Amazon-PR komplett unterschlägt: Die 25 Euro Stundenlohn, mit denen Amazon Flex in Deutschland wirbt, sind Augenwischerei. Die selbständigen Flex-Fahrer verursachen keinerlei Lohnnebenkosten, Amazon hat keinerlei Fürsorgepflicht. Rechnet man Versicherungen (Krankheit, Rente, Unfall), Fahrzeugkosten, Reparaturen, heraus, ergibt sich höchstwahrscheinlich nur ein Hungerlohn. Oder ein digitales Sub-Proletariat ohne Kranken- und Rentenversicherung.

In Deutschland ist es nicht besser!

Kein Zweifel: Das Amazon-Prinzip ist als sozialschädlich abzulehnen. Dass wir allerdings mit den Finger auf US-Schurken-Konzerne zeigen können, liegt auch daran, dass das deutsche Rechtssystem im Vergleich zu den USA unterentwickelt ist.

In Deutschland gibt es — bis auf wenige Ausnahmen wie geprellte Lehmann-Kunden, Zwangsarbeiter im 2. Weltkrieg und Diesel-Fahrer:innen — keine Möglichkeit der Sammelklage und keine kollektive Entschädigung über Fonds. Das ist absurd, rückständig und muss sich dringend ändern! Gerade in Bezug auf Arbeitsverhältnisse.

In Deutschland müsste tatsächlich jeder einzelne Paketbote, jede einzelne Kellnerin und Putzfrau, jeder Leiharbeiter immer wieder den Arbeitgeber wegen Lohnraub verklagen. Als handele es sich um Einzelfälle! Die Arbeitsgerichte weigern sich, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Sie stoppen die Unrechtspraxis meist nicht. Zwar gibt es Präzedenzfälle, aber das ist im Fall von Trinkgeld nicht zu befürchten, denn die zu erwartende Entschädigung ist geringer als die Anwaltskosten.

Die Lage in Deutschland ist keineswegs besser. Sie wird nur nicht erkannt.

Bildschirmfoto Startseite Amazon Flex. 25 Euro Stundenlohn. Werden Sie ihr eigener Chef!
25 Euro pro Stunde? Amazon Flex wirbt auch in Deutschland mit scheinbar paradiesischen Löhnen. Offenbar setzt Amazon Flex auf Menschen, die nicht richtig rechnen können. Die nie krank werden und auch keine Rente brauchen. (Bild: Screenshot Amazon Flex, 10.2.2021, Ausschnitt)

Der Beitrag erschien zuvor in leicht redigierter Form in der Tageszeitung ND vom 4.2.2021


Quellen / Anmerkungen

1 dpa: Trinkgeld an Fahrer unterschlagen: Amazon zahlt 62 Millionen US-Dollar, Heise online, 3.2.2021, https://www.heise.de/news/Trinkgeld-an-Fahrer-unterschlagen-Amazon-zahlt-62-Millionen-US-Dollar-5044131.html

3 Sarah Perez: Amazon to pay $61.7M to settle FTC complaint over stolen Amazon Flex driver tips, Tech Crunch, 2.2.2021, https://techcrunch.com/2021/02/02/amazon-to-pay-61-7m-to-settle-ftc-complaint-over-stolen-amazon-flex-driver-tips/


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