Erntehelfer:innen ohne Krankenversicherung?

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Landwirtschaftsministerium bejubelt Ausweitung der Beschäftigung ohne Sozialversicherung – Agentur für Arbeit beschafft billige Arbeitskräfte aus Georgien

Solidarische Untersützter:innen der Saisonarbeiter:innen beim Bornheimer Spargelstreik am 18. Mai 2020

Gibt es in Deutschland eigentlich eine erfolgreichere Lobbyistin als Julia Klöckner? Als Sprechpuppe des Deutschen Bauernverbandes leistet sie für ihr Klientel enormes und pfeift dabei auf Klimaschutz, Tierwohl und Menschenrechte. Darüber täuschen auch rosa Dolores-Umbridge-Kostüme und Bibelsprüche zu Gründonnerstag nicht hinweg.

So einen „christlichen“ Post muss man als Verantwortliche für Kastenstand, betäugungsfreie Ferkelkastration und versicherungsfreie Beschäftigung von Wanderarbeiter:innen erst mal bringen. Screenshot twitter 01.04.21

Agentur für Arbeit beschafft billige Arbeitskräfte für Spargelbauern

Jammern steht bei Landwirten hoch im Kurs. Denn in der Regel wird es mit reichlich Geld belohnt – oder Dienstleistungen auf Kosten der Allgemeinheit. Dabei scheuen die gleichen Landwirte, die Böden mit Nitrat bis an die Belastungsgrenze bringen und mit Glyphosat hantieren als hätten sie noch nie von Bienchen, Blümchen und deren Bedeutung für Ernten gehört, nicht, ihre uneigennützige Sorge um die Versorgungssicherheit zu betonen.

Eben diese Versorgungssicherheit sei aber gefährdet, weil man pandemiebedingt nicht genügend Erntehelfer fände, klagen Bauern. Dabei ist der Befund laut tagesschau ein anderer: Polen arbeiten jetzt eher als Vorarbeiter und unter Rumänen und Bulgaren haben sich die lausigen Bedingungen für Saisonarbeiter in Deutschland wohl herumgesprochen. Es ist gar nicht mehr so leicht, Wanderarbeiter:innen zu finden, die die schwere körperliche Arbeit für 9,50 Euro auf sich nehmen wollen. 

Doch statt Abhilfe zu schaffen und höhere Löhne zu zahlen, werden jetzt Georgier „ausprobiert“ (tagesschau 26.03.2021 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/erntehelfer-georgien-101.html).  Und das Beste: Landwirte brauchen, um Georgier:innen für sich arbeiten  zu lassen nicht einmal selbst aktiv werden. Die Bundesagentur für Arbeit wirbt statt dessen für sie 5.000 Menschen aus Georgien an und kümmert sich laut tagesschau nicht nur um deren Arbeitsverträge, sondern auch ihre Anreise. (Lesen sie dazu das Update: Bundesagentur für Arbeit wirbt Erntehelfer aus Georgien an vom 22.04.2021)


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Wer zahlt die Dienstleistung für die Landwirte?

Die Bundesagentur für Arbeit finanziert sich aus den Betirägen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten für die Arbeitslosenversicherung. Ob der Service für die Landwirte auch direkt von den Beitragszahlern in Deutschland finanziert wird? Das wäre unter dem Gesichtspunkt, dass Landwirte darüber jubeln für die Erntehelfer*innen keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen schon etwas pervers. Die Bauern würden von einem System profitieren, dass sie selbst unterhöhlen. 

Ausweitung der 70-Tage-Regel – 102 Tage Arbeit ohne Krankenversicherung?

Eine kurzfristige Beschäftigung ist unter normalen Umständen für 70 (Arbeits-)Tage versicherungsfrei möglich. Merkmal ist, dass die kurzfristige Beschäftigung nicht berufsmäßig ausgeübt wird (haufe 10.03.2021 https://www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/saisonarbeit-was-arbeitgeber-beachten-muessen/saisonarbeiter-die-wichtigsten-regeln-zur-sv_76_344000.html). Am 31.03.2021 beschlossen CDU und SPD im Bundeskabinett die Ausweitung dieser Regel für Saisonkräfte auf 102 Tage. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) jubelte: 

Screenshot Twitter 30.03.2021

Die rund 300.000 Erntehelfer, die in Deutschland jährlich auf deutschen Feldern schuften, machen dies  also während ihrer Freizeit und während sie in ihrem Heimatland eine Arbeit haben, über die sie ihren Lebensunterhalt sichern und sozialversichert sind? Das kann niemand glauben, der sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt. 

Insbesondere, da die Dauer von 102 Tage sich nicht auf die Dauer des Aufenthaltes bezieht, sondern reine Arbeitstage meint. Selbst bei einer 6-Tage-Woche kommt man so auf eine verischerungsfreie Zeit von rund 17 Wochen, also gute vier Monate

Eine der vielen Reaktionen auf Julia Klöckners Bibel-Post. Screenshot twitter 01.04.2020

Während der Dritten Welle: Ohne Krankenversicherung und zu acht im Container 

Eine sozialverischerungsfreie Beschäftigung heißt für die Erntehelfer*innen, dass sie keine Rentenansprüche aufbauen.

Es heißt im schlimmsten Fall aber auch, dass sie für medizinische Behandlung oder Krankenhausaufenthalte selbst zahlen müssen. Dazu kommt: ohne gelben Schein gibt es keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – und damit also eine ganze Reihe Gründe, auch bei großen Beschwerden keinen Arzt aufzusuchen. Das bringt, insbesondere während der Pandemie, die Wanderarbeiter:innen selbst in Gefahr. Ist aber auch unappetitlich und möglicherweise auch für Kunden gesundheitsgefährdend.

Dabei ist das Risiko der Saisonkräfte groß. Denn auch bezüglich der Unterbringung hat die Bauernlobby ganze Arbeit geleistet: das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung sah in Corona keinen Grund die Regelungen aus 2020 großartig zu bearbeiten (BMEL 17.03.2021 Rahmenbedingungen für Saisonkräfte https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Landwirtschaft/rahmenbedingungen-saisonarbeitskraefte.html). Statt dessen gibt es laue Empfehlungen, wie „Anzustreben ist eine Unterbringung in Einzelzimmern“ oder „Falls aufgrund des Arbeitsverfahrens größere Gruppen als 4 Personen gebildet werden, können in einem Mehrbettzimmer maximal 8 Personen, bzw. 4 Personen in einem Wohncontainer übernachten.“

Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, das übrigens auch das soziale Wohlempfinden betrifft, hat die christliche Landwirtschaftsministerin bei all diesen Regelungen sicher nicht im Sinn gehabt (https://de.wikipedia.org/wiki/Recht_auf_k%C3%B6rperliche_Unversehrtheit).  

Keine Überprüfung der Voraussetzung zur Versicherungsfreiheit möglich

Es gibt kein europäisches Register, in dem in Echtzeit der Sozialversicherungsstatus von Bürgern abgefragt werden könnte. Schon gar nicht gibt es eine solche Vernetzung mit Nicht-EU-Ländern. Einmal abgesehen von der Frage, ob ein solches Register überhaupt wünschenswert wäre, stellt sich aber tatsächlich das Problem: es gibt keine Möglichkeit Angaben zum Versicherungsstatus der Erntehelfer:innen zu überprüfen.

Das ist nicht nur für die Frage der Beurteilung kurzfristiger Beschäftigungen ein Problem, sondern öffnet auch in anderen Branchen wie dem Bau und der Fleischinsutrie das Tor für massiven Missbrauch. Der DGB fordert nicht umsonst die Abschaffung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung auf EU-Ebene (Ausbeutung mobiler Beschäftigter in der EU vom 11.11.2020 https://www.dgb.de/downloadcenter/++co++b9fd61e8-2406-11eb-9c29-001a4a16011a)

Die von Julia Klöckner betonte Meldepflicht wirdt erst 2022 greifen. Allerdings begründet auch sie keine Versicherungspflicht, sondern lediglich eine Mitteilung über einen „anderweitigen“ Schutz im Krankheitsfall. Die Krux jedoch bleibt: wie der DGB in seinen Ausführungen zu Ausbeutung mobiler Beschäftigter betont: Papier es geduldig und mit dieser Art von Bescheinigungen (z.B. auch A1-Bescheinigung von EU-Bürgern) wird massiver Missbrauch betrieben. 

Landwirte könnten übrigens, für wirklich wenig Geld, Saisonkräfte in einer Erntehelfer-Versicherung absichern. Doch das geschieht laut der Beratungsstelle für osteuropäische Beschäftigte des DGB selten. Private Versicherungen, die die Erntehelfer selbst abschließen könnten, schließen dagegen das Risiko einer Pandemie inzwischen teils sogar komplett aus. 

Einreise aus Hochinzidenz- oder Risikogebieten: Arbeitsquarantäne

Die Einreise aus Hochindzidenz- oder Risikogebieten ist keineswegs verboten. Für diesen Fall ist eine Arbeitsquarantäne vorgesehen:

„Das Verlassen der Unterbringung ist nur zur Ausübung der Tätigkeit gestattet. Nach diesem Regelungsvorschlag des Bundes ist ein Arbeiten unter strengen Schutzmaßnahmen unmittelbar nach Einreise möglich.“ Damit wäre der für die Landwirte vermutlich wichtigste Punkt ja geklärt: die Billiglöhner dürfen nach der Anreise sofort auf das Feld geschickt werden. (siehe Rahmenbedingungen für Saisonkräfte des BMEL)

Der Bundestag wird nach Ostern über die Ausweitung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung der Saisonkräfte beraten. Kein Zweifel, dass man auch hier dem Profit der Landwirte den Vorrang vor den Interessen der Saisonarbeiter:innen und dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung geben wird.

#MiesesStückSpargel

2020 kam es zu verschiedenen größeren Corona-Ausbrüchen unter Saisonarbeiter:innen, zum Beispiel im niederbayrischen Mamming Auch durch den Bornheimer-Spargelstreik im Mai 2020 (arbeitsunrecht Geld her! Bornheimer Spargelstreik: Rumänische Erntehelfer wehren sich https://arbeitsunrecht.de/geld-her-bornheimer-spargelstreik-rumaenische-erntehelfer-wehren-sich-demo-montag-900/) erfuhr das Thema der Ausbeutung und die katastrophalen Unterbringungen in verrotteten Containern viel Aufmerksamkeit.

Fast ein ganzes Jahr ist seitdem vergangen. Einen besseren Schutz für die Wanderarbeiter:innen gibt es dennoch nicht. Bleibt zu hoffen, dass Kund:innen ihrer Abscheu per Kaufentscheidungen Ausdruck verleihen und 2021 die Finger vom Spargel lassen.

BR 26.07.2020 Corona-Ausbruch bei Erntehelfern: Scharfe Kritik an Großbetrieb https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-ausbruch-in-mamming-ministerin-melanie-huml-kritisiert-betrieb,S5qkk6R


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