HAG: Freie Meinungsäußerung unter Beschuss

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Hamburger Sozial-Dienstleister verschickt Massen-Abmahnung wegen Betriebsrats-Info | Gütetermin ergebnislos

Die Hamburger AssistenzGenossenschaft eG (HAG) preist sich selbst auf ihrer Website für ein „lebhaftes und konstruktives Miteinander“. Dieser eitle Sonnenschein wärmt aber offenbar nicht alle Beschäftigten des Sozial-Dienstleisters für Menschen mit Behinderung – und erst recht nicht den Betriebsrat: Die HAG verschickte persönliche Abmahnungen an insgesamt fünfzehn gewählte Arbeitnehmervertreter und Stellvertreter, weil sie angeblich hinter anonym verfassten kritischen Berichte im Betriebsrats-Info stehen sollen (arbeitsunrecht.de 26.11.2015). Es ging um grenzwertige Belastungssituationen am Arbeitsplatz.

Wir veröffentlichen zwei Berichte aus dem Gerichtssaal, die sich recht gut ergänzen: 

Dieter Wegner, jour-fixe der Gewerkschaftlinken Hamburg, schreibt:

Belegschaft steht  bei Güte-Termin vor Hamburger Arbeitsgericht zu ihrem Betriebsrat

Am Dienstagmorgen erschienen im Hamburger Arbeitsgericht einige UnterstützerInnen des Betriebsrates der HAG (Hamburger Assistenz Genossenschaft). Wir mußten in einen größeren Saal umziehen, damit das Recht auf Öffentlichkeit gewahrt blieb.


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Neun Betriebsratsmitglieder und sechs von sieben Stellvertretern, also insgesamt 15 Personen, hatten Abmahnungen erhalten. Es ging um einen Artikel in ihrem Betriebsrats-Info. Darin wurden zwei Fälle aus ihrer täglichen Arbeit geschildert, die schon mehrere Jahre zurücklagen: In dem einen Fall ging es darum, daß ein Persönlicher Assistent (Pfleger), der einen Rollstuhlfahrer betreute, miterlebt hatte, wie dieser beim gemeinsamen Einkauf mehrfach Artikel mitgehen ließ. Er ignorierte dies, weil er das als gerechte Umverteilung ansah. Beim zweiten geschilderten Fall wurde eine Persönliche Assistentin vom Freund ihrer Patientin mehrfach sexuell belästigt, wenn sie mit diesem allein war. Nachdem sie lange zögerte, erzählte sie es ihrer Patientin, die ihre Mitteilung in Ordnung fand.

Die 300 MitarbeiterInnen der HAG betreuen die Hilfebrauchenden ambulant.

Der betreffende Artikel war anonym, deshalb wurden fast alle Betriebsräte abgemahnt. Der Anwalt der HAG, Heinrich Geising von der Kanzlei Dornheim sagte unter dem Gelächter der Zuschauer: Den Betriebsrat können wir leider nicht abmahnen.

Bei dem Streit geht es darum, daß die Geschäftsleitung verlangt hatte, der Betriebsrat habe sich an sie zu wenden, ehe er strittige Informationen in sein BR-Info stelle. Die Geschäftsleitung begründete ihre Massen-Abmahnungen damit, die Betriebsräte hätten den Betriebsfrieden gestört und der HAG Schaden zugefügt.

Das sieht der BR anders und beharrt auf seinem Recht der freien Meinungsäußerung. Es seien Fallbeispiele angeführt worden, wie sie in jeder Branche in Fortbildungen berichtet würden. Man sei mit der Geschäftsleitung völlig d’accord, daß schwere Mißstände sofort mitgeteilt werden müßten.

Die HAG hat 300 Beschäftigte, alle in Teilzeit, 12 bis 20 Stunden pro Woche. 75 Prozent sind Frauen. Die Regel ist, daß sie höhere Qualifikationen haben. Viele sind AufstockerInnen. Etliche haben auch mehrere Jobs.

Das Spezifische an der HAG ist, daß etliche der Assistenznehmer, so werden die Hilfebrauchenden genannt, GenossInnen der HAG sind.

Die Einrichtung wurde vor über 20 Jahren von einer Gruppe engagierter Menschen mit Behinderung gegründet. Die Idee ist, daß Menschen trotz Behinderung möglichst selbstbestimmt ihr tägliches Leben führen können. Die Tätigkeit der HelferInnen wird Persönliche Assistenz genannt.

Mit ihrem Vorgehen stellt sich die Geschäftsleitung in eine Reihe vom seit etwa zehn Jahren aufgekommenen Union Busting/Fertigmachen von Betriebs- und GewerkschaftsaktivistInnen. Die Zahl der Fälle nimmt zu. Das aggressive Verhalten Kapitalisten/Unternehmensleitungen ist branchenübergreifend, vom honorig und seriös sein wollenden HUK-Coburg-Unternehmen, der start-up-Firma, die erst seit sechs Jahen besteht bis eben zu dem sozialen Unternehmen HAG. In Hamburg gab es dazu allein in den letzten Tagen mehrere Beispiele, so die fristlose Kündigung des stellvertretenden BR-Vorsitzenden der Versicherung HUK-Coburg, so die Kündigung von 28 Mitarbeitern beim Spiele-Hersteller Goodgame, weil diese einen Betriebsrat gründen wollten. Bald dürften arbeitslose Juristen gute Chancen haben, beim Hamburger Arbeitsgericht eine Anstellung zu finden. Diese drei Fälle in sehr unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen, zeigen, wie sich die Versuche des Fertigmachens krebsartig ausbreiten.

Zweck ist nicht nur die direkte Einschüchterung von Betriebs- und GewerkschaftsaktivistInnen sondern alle Beschäftigten sollen in Angst versetzt werden, damit sie sich wortlos fügen und gehorchen. Vor einiger Zeit begrifflich mit dem Ausdruck Humankapital umgarnt, jetzt auf die immer preiswertere Ware Arbeitskraft reduziert, die zu funktionieren hat.

Zum Glück haben sich die Beschäftigten von HAG einen kämpferischen Betriebsrat gewählt, nicht den oder die VerfasserInnen der Artikel nennt, wie eine Eins zusammenhält.

Was verwunderte: Von ver.di war niemand bei dem Gütetermin zu sehen. Sehr im Gegensatz zur Verhandlung von Maik S. in der vorigen Woche vor dem LAG, dem stellv. BR-Vorsitzenden von HUK Coburg, als zwei ehrenamtliche ver.di-Mitglieder mit Unterstützung von Hauptamtlichen mobilisiert hatten.

Nach über einstündigem Palaver zwischen dem Vorsitzenden Richter und den beiden Anwälten, bei dem der Richter nur mehrfach empfehlen konnte, daß Geschäftsleitung und Betriebsrat mehr kommunizieren sollten, sagte er den nächsten Termin an: April 2016.

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Berthold Buntspecht geht ein seinem Bericht stärker auf die juristischen Sachverhalte und Winkelzüge während des Gütetermins ein:

Neben den Prozessbevollmächtigten, RA Heinrich Geising (Kanzlei Dornheim, auf Seiten des Unternehmen) und RAin Christiane Knack (Rechtsforum Hamburg) waren aufseiten des Arbeitgebers die beiden geschäftsführenden Vorstände, Ulrike Dörrzapf da Silva und Gösta Marnau, und für die Partei des Betriebsrats dessen Vorsitzende, Sinje L., persönlich zum Termin erschienen.

Ilbert Albers, der Vorsitzende Richter, wies die Parteien (und die zahlreich erschienenen Zuschauer) gleich zu Beginn der Sitzung darauf hin, dass vom Gericht keine Konfliktlösung zu erwarten sei, sondern lediglich die vorliegenden Anträge der Prozessparteien auf ihre rechtliche Zulässigkeit und inhaltliche Begründetheit überprüft würden.

Zunächst bat er die Prozessbevollmächtigte des Betriebsrats, RAin Christiane Knack (Rechtsforum Hamburg), um eine Präzisierung ihrer Anträge: Wolle sie diese namens und im Auftrag jedes einzelnen abgemahnten Betriebsratsmitglieds stellen oder für den Betriebsrat als Gremium? Im letzteren Fall gebe es nämlich ein rechtliches Problem dergestalt, dass nur einzelne Mitglieder des Gremiums dazu berechtigt seien, einen solchen Antrag überhaupt zu stellen. Dies habe das Bundesarbeitsgericht erst kürzlich in einer aktuellen  Entscheidung (BAG, 09.09.2015, Az.: 7 ABR 69/13) klargestellt. Daraufhin erklärte RAin Knack, die Anträge auf Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte des jeweiligen BR-Mitglieds würden im Namen des betroffenen Mitglieds, nicht des Gremiums, gestellt.

Die Arbeitgeberseite beantragte, durch das Gericht feststellen zu lassen, dass die Anträge der Gegenseite in der vorliegenden Form unzulässig seien und betonte, mit der Veröffentlichung anonymisierter Erfahrungsberichte, die sich der Betriebsrat durch die Publikation in seiner „BR-Info“ inhaltlich zu eigen gemacht habe, sei ihrer Ansicht nach die Grenze zulässiger Interessenwahrung des Betriebsrats überschritten worden, zumal die Publikation keinen Impressumsvermerk getragen habe.

Da er nicht den Betriebsrat als Gremium abmahnen könne, habe er, so RA Geising, eben jedes einzelne BR-Mitglied abmahnen müssen. Richter Albers erklärte, sich zu Fragen der presserechtlichen Verantwortlichkeiten nicht im Detail äußern zu wollen und verwies stattdessen auf die Antragsbegründung des Betriebsrats. Dieser hatte erklärt, seine betriebliche Überwachungsfunktion gemäß § 80 BetrVG erst dann vollumfänglich ausfüllen zu können, wenn er durch Rückmeldungen der Assistenzgeber(innen) quasi aus erster Hand erfahre, vor welche Probleme sie bei ihrer täglichen Arbeit mit behinderten Menschen und deren Angehörigen gestellt würden und in welche Konfliktsituationen sie dabei typischerweise gerieten.

Der Betriebsrat habe über diese Geschehnisse nur anonym berichten wollen und können, weil die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten geschützt werden müssten. Würde bekannt, um welche(n) Mitarbeiter(in) und um welche hilfebedürftige(n) Person(en) es sich jeweils gehandelt habe, wären die Mitarbeiter(innen) möglicherweise arbeitsrechtlichen Sanktionen ausgesetzt  – und es käme obendrein zu einer Belastung des Verhältnisses zwischen Assistenzgeber(in) und Assistenznehmer(in). Der Betriebsrat wolle sich einen Einblick in die Arbeitsplatzsituation der Mitarbeiter(innen) verschaffen und habe diese Chance sonst nicht, da die Arbeit der Kolleg(inn)en im privaten Lebensumfeld der Assistenznehmer(innen) geleistet werde.

Hierauf wandte der Prozessbevollmächtigte des Arbeitgebers ein, es sei vor einer eventuellen Veröffentlichung solcher Berichte über schwierige bzw. konfliktträchtige Arbeitsplatzbedingungen doch zunächst die Aufgabe des Betriebsrats, das Gespräch mit dem Vorstand zu suchen. Richter Albers gab zu bedenken, dass ein solches Vorgehen des Betriebsrats nach seiner Einschätzung keine Wahrnehmung der betriebsverfassungsrechtlichen Überwachungsaufgabe mehr darstelle: „Sie möchten etwas provozieren. Warum reicht Ihnen nicht die Aufforderung an Ihre Kolleg(innen): Leute, kommt zu uns, wenn oder bevor etwas passiert ist?“

RA Geising bekräftigte, jede(r) Assistenzmitarbeiter(in) könne sich in derartigen Fällen an seine/-n Vorgesetzten wenden: „Wir regeln das!“ Diese Möglichkeit, so RA Geising weiter, kommuniziere der Betriebsrat jedoch gegenüber den Mitarbeiter(innen) nicht. Warum sei nicht der Versuch unternommen worden, die beschriebenen Probleme betriebsintern zu klären? Solange der Arbeitgeber nicht wisse, welche Vorkommnisse es wann und wo gegeben habe, könne er auch nicht für eine Veränderung sorgen.

Auch Ulrike Dörrzapf da Silva wandte ein, die Mitarbeiter(innen) der einzelnen Abteilungen seien in regelmäßig stattfindende Supervisionen eingebunden. RAin Knack und die Betriebsratsvorsitzende, Sinje L., entgegneten, es habe die von RA Geising angesprochenen Klärungsversuche bereits gegeben, doch habe der Vorstand sie nicht unterstützt. Richter Albers bemerkte abschließend, die Zulässigkeit der Anträge der 9 (+ 6) abgemahnten Betriebsratsmitglieder, mit denen sie die vorgenannte Form der anonymisierten Meinungsäußerung (und deren Veröffentlichung ohne Impressumsvermerk) zu verteidigen versuchten, sei rechtlich nicht zu bezweifeln, jedoch mochte sich gegenwärtig noch nicht zum Inhalt der am 09.07.2015 ausgesprochenen Abmahnungen äußern. Hierzu finde voraussichtlich im Januar 2016 ein separater Anhörungstermin statt.

Bei einem weiteren Beschreiten des Rechtswegs durch die Parteien sei eine nachhaltige Konfliktlösung seines Erachtens nicht zu erwarten. Bis zum Anhörungstermin sollten die Parteien daher den Versuch unternehmen, in vertraulichem, betriebsinternem Rahmen konfliktlösende Gespräche miteinander zu führen. Ob sich Arbeitgeber und Betriebsrat jedoch dazu bereitfinden werden, ist derzeit jedoch noch völlig offen.


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