Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter | Werner Rügemer, Nachdenkseiten, 13.5.2020

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Unternehmer und Behörden schauen erstmal weg

Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter

Viel zu spät wird jetzt aufgeregt getestet. Aber das Übel ist das Zwangsinstrument der betrügerischen Werkverträge: Sie müssen endlich für illegal erklärt werden.

Eine der höchsten Risikogruppen – sie blieb bei allen drastischen Gegenmaßnahmen völlig unbeachtet. Plötzlich, aus scheinbar „heiterem Himmel“ wird jetzt bekannt: In immer mehr Schlachthöfen in Deutschland sind osteuropäische Werkvertragsarbeiter extrem häufig vom Corona-Virus infiziert. Plötzlich werden Schlachthöfe geschlossen. Plötzlich will die Landesregierung in allen Fleischkonzernen in NRW die 20.000 Beschäftigten testen und will auch deren enge Massenunterkünfte kontrollieren.

Innerhalb weniger Tage wurden hohe Infektionsraten bekannt: Beim Westfleisch-Konzern in Coesfeld/Münsterland 129 Infizierte unter 1.200 Beschäftigten, 150 Infizierte von 1.200 Beschäftigten im Werk Oer-Erkenschwick. 300 Infizierte unter 1.100 Beschäftigten bei Müller Fleisch in Pforzheim/Baden-Württemberg. 49 Infizierte beim ersten Anlauf im Werk Bad Bramstedt/Schleswig-Holstein des niederländischen Schlachtkonzerns Vion, des größten in Europa. Und so weiter. Mehrere Betriebe wurden vorläufig geschlossen. Auch die Landesregierung von Schleswig-Holstein will alle Fleischarbeiter testen – ob das wirklich getan wird, ist unklar; denn die Behörden beschäftigen sich erstmal, von den Medien angetrieben, mit den sechs großen Schlachthöfen, die 44 kleineren stehen im Schatten. Durch eine Pressemitteilung des BUND in Sachsen-Anhalt wachte auch die dortige Landesregierung auf und will nun schnell alle 2.500 Beschäftigten des Tönnies-Betriebs in Weißenfels testen.[1] Obwohl da täglich 20.000 Schweine von osteuropäischen Werkvertraglern zerlegt werden, war das bisher kein Thema.

Böklunder Würstchen: Systemrelevant in der Corona-Krise

Und wie glaubwürdig sind die Virus-Bekämpfer? Vorher haben sie die Fleischproduktion als „systemrelevant“ erklärt: Die Wanderarbeiter wurden unkontrolliert und ungeschützt zu noch mehr Sonderschichten getrieben.


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Clemens Tönnies, Haupteigentümer des größten Schweineschlachtkonzerns Deutschlands und Europas, der Tönnies Holding, lobt ausdrücklich, dass er als „systemrelevant“ eingestuft wurde. Die Böklunder Würstchen im Glas von Tönnies: systemrelevant. „Durch Corona ist die Nachfrage nach unseren Fleischwaren um ein Drittel gestiegen. Wir suchen kurzfristig 100 Aushilfen“, erklärte er. Er durfte im Handelsblatt stolz verkünden: Meine „Mitarbeiter“ schieben jetzt zusätzlich 16-Stunden-Schichten am Wochenende.[2]

Die Fleischzerleger gehören zu einer der höchsten Risikogruppen. Das ergibt sich aus einer Kombination von Risikosituationen. Das wurde in den USA schon frühzeitig deutlich: Die ausgebeuteten Werkvertragler – Afroamerikaner, Latinos, Nepalesen, Flüchtlinge aus Asien und Südamerika – in den Fleischfabriken von Smithfield Foods, Tyson Foods & Co sind überproportional häufig infiziert und sterben besonders häufig. Im ersten Anlauf erwiesen sich 16 Prozent der 3.700 Beschäftigten im 3-Schicht-Fleischbetrieb von Smithfield in South Dakota als infiziert.

Arbeit: Eng und stressig

Die Werkvertragler arbeiten vielfach Schulter an Schulter. Sie arbeiten zwar unter kühlen Temperaturen, aber die Luft wird ständig ausgetauscht. Die Arbeit ist anstrengend, der Zeitdruck ist extrem hoch, die Schichten können auch mal 16 Stunden dauern und auch das noch überschreiten. Die Körper sind geschwächt, gesundheitlich angegriffen. Pausen werden nicht immer eingehalten. Deshalb halten die meisten der osteuropäischen Werkvertragsarbeiter den Stress nur zwischen zwei und vier Jahren aus und werden dann von den Werkvertragsfirmen zurück nach Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn, Moldau und in die Ukraine zurückgeschickt, ob krank oder gesund.

Diese Gesundheitsgefährdung und Schwächung der Arbeits-Körper ist in Deutschland seit den 1990er Jahren imgange. Bei der erstmaligen größeren Ermittlung durch das NRW-Arbeitsministerium im Jahr 2019 – ein halbes Jahr vor Corona – wurden in 30 NRW-Großbetrieben mit 17.000 Beschäftigten folgende häufig wiederkehrende Rechtsbrüche, Praktiken und Folgen festgestellt: „5.800 Arbeitszeitverstöße“, „unangemessene Lohnabzüge“, „unwürdige Unterkünfte“, „mangelhafter Arbeitsschutz“, „Schichten mit über 16 Stunden“, „nicht eingehaltene Ruhepausen“, „lärmbedingte Hörschäden“, „entfernte Schutzeinrichtungen“, „abgeschlossene Notausgänge“, „gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen“.[4] Der Untersuchungsbericht wurde im Januar 2020 veröffentlicht. Die Behörden waren also weit vor „Corona“ aus eigener Anschauung über die Risikogruppe informiert.

Der Bericht nennt allerdings komplizenhaft keine Namen von Konzernen und ihren zahlreichen Subunternehmen. Keine Staatsanwaltschaft wurde informiert.

Wegen „Corona“: Noch mehr arbeiten!

Weil wegen „Corona“ die EU-Staaten gegenseitig ihre Grenzen geschlossen haben, konnte der Austausch und Nachschub der gestressten Billiglöhner nicht so zügig organisiert werden wie sonst. Weil die Tierschlachtung von den staatlichen Pandemie-Bekämpfern zu den „systemrelevanten“ Unternehmen erklärt wurde und weil Tönnies & Co die Gelegenheit freudig ergriffen, wurde die Arbeit noch zusätzlich intensiviert.

Enge Massenunterkünfte

Das Infektionsrisiko entsteht nicht nur in der Arbeitssituation. In der Regel sind die Werkvertragler in engen Mehrbettzimmern untergebracht. Sechs bis acht Arbeiter auf 30 Quadratmetern, mit gemeinsamer kleiner Küche und gemeinsamen knappen Sanitäranlagen. Weil die Subunternehmer, die die Unterkünfte vermieten, möglichst viel verdienen wollen, bleibt der Einrichtungs- und Hygiene-Standard auf niedrigstem Niveau.

Täglicher Hin- und Hertransport in Kleinbussen

Die Schlachtbetriebe stehen in der Stadt, die Massenunterkünfte sind meist entfernt in ländlicher Gegend. So wohnen die Werkvertragler der Anhalter Fleischwaren GmbH in Zerbst – gehört zur Mühlen-Gruppe des Tönnies-Konzerns – 20 Kilometer entfernt in Dessau. Da sind die Mieten, die der Subunternehmer zahlt, billiger. Und die Arbeiter bleiben für die Konsumenten, für die städtische Öffentlichkeit und für die Behörden unsichtbar. Deshalb werden die Arbeiter in Kleinbussen täglich hin- und hertransportiert, eng nebeneinander sitzend.

Polizei, Zoll, Gewerbeaufsicht, Gesundheitsamt: Organisiert wegschauen!

Die Unternehmenschefs und die Behörden haben möglichst lange das Testen vermieden, selbst wenn Beschäftigte typische Corona-Krankheiten zeigten. Die Polizei, die in der städtischen Öffentlichkeit mit hoher Präzision das Abstandsgebot in Parks, Straßen und Geschäften kontrolliert und Bußgelder verhängt – sie kam in keinem Schlachtbetrieb vorbei. Ebenso der Zoll, die Gewerbeaufsicht (zuständig für die Arbeitssicherheit), die Gesundheitsämter – keiner kam vorbei. Deshalb, als es nicht mehr zu vermeiden war: „Viele der Bewohner waren froh, dass man endlich getestet worden ist, damit man Gewissheit hat, ob man positiv ist. Interessanterweise waren viele symptomatisch. Das heißt, sie hatten die Anzeichen einer Corona-Krankheit geäußert“, erklärte Torsten Wendt, der Landrat des Kreises Steinburg, zuständig für den Vion-Schlachthof in Bad Bramstedt und die Unterkünfte der Fleischzerleger in Kellinghusen.[5]

Leitkultur Bayern: Auch jetzt noch weiter wegschauen!

Übrigens: Beim strengen Corona-Ober-Kommandeur Markus Söder – in den Schlachtbetrieben Bayerns wird auch jetzt nicht getestet. Es habe ja bisher keine „Ausbruchssituationen“ gegeben, teilt das bayerische Gesundheitsministerium mit.

Wer nicht sucht, der findet nichts. Gemütlich-ungestörte Fresserei von Billigfleisch gehört für die mit dem christlichen Kreuz bestückten Behörden des allerchristlichsten Freistaats zur populistischen Leitkultur, auch wenn dafür Christen niedrigeren Ranges aus Rumänien den Tod riskieren.

Betrügerische Werkverträge?

Die Risikogruppe wird durch mehrere Praktiken unter der Knute und im stillen Erdulden von Niedriglöhnerei und Gesundheitsgefahren gehalten. Das zentrale Instrument ist der Werkvertrag – er stellt in diesem Fall sogar selbst einen Rechtsbruch dar. Damit werden zusätzlich gezielt weitere flächendeckende, hunderttausendfache Rechtsbrüche ermöglicht. Das steigert den Gewinn bei Vion, Westfleisch, Müller Fleisch, Anhalter Fleischwaren, Danish Crown, Tönnies & Co.

Ein unterschiedlich hoher Anteil der Beschäftigten – etwa zwischen 20 und 80 Prozent – sind Werkvertragsarbeiter. Sie kommen meist aus osteuropäischen, durch die EU verarmten Staaten: Hohe Arbeitslosigkeit, niedrigste Niedrig- und Mindestlöhne, in Moldau 200 Euro im Monat. Da erscheint die Beschäftigung im reichen Deutschland für ein paar Jahre, auch unter menschenrechtswidrigen Bedingungen und mit Trennung von der Familie, als ein Ausweg.

Was ist ein Werkvertrag?

Werkvertrag: Das bedeutet den in Deutschland niedrigsten arbeitsrechtlichen Status, noch unterhalb der Leiharbeit:

  • Die Arbeiter sind nicht in dem Betrieb angestellt, in dem sie arbeiten
  • Die Arbeiter sind auch nicht bei einer Leiharbeitsfirma angestellt
  • Die Arbeiter sind angestellt bei einer Werkvertragsfirma, die mit Vermittlungsgebühr, Abzügen für Fahrservice, Schutzausrüstung und Unterkunftsvermietung ihre Angestellten in Mehrfach-Abhängigkeit hält. Damit kann der Mindestlohn unterlaufen werden.
  • Für Werkvertragler gibt es keine Tariflöhne. Es gibt keinen Unternehmerverband der Werkvertragsfirmen.
  • Werkvertragler müssen nicht, wie Leiharbeiter, nach neun Monaten in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen werden.
  • Werkvertragsfirmen sind prinzipielle Feinde von Gewerkschaften, von Betriebsräten und von sonstigen Formen der gemeinschaftlichen Vertretung der Interessen der Beschäftigten.

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