Krankschreibung: Per Telefon gegen den Neoliberalismus | Elmar Wigand im nd

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Kommentar von Elmar Wigand, Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht. Erschienen in: nd, 20.10.2020.


Verändert die vereinfachte Krankschreibung die Arbeitskultur?

Elmar Wigand fände das dringend wünschenswert.

Die Ausnahmeregelung der telefonischen Krankmeldung ermöglicht neuerdings eine Selbstkrankschreibung. Damit begibt sich die Bundesregierung notgedrungen auf einen Pfad, der die deutsche Arbeitswelt grundlegend verändern könnte.

Bis Ende 2020 können Patient*innen, die an leichten Atemwegserkrankungen leiden, telefonisch krankgeschrieben werden. Schon in der ersten Corona-Welle war es vom 10. März bis zum 23. Juni 2020 möglich, so eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für bis zu 14 Tage zu bekommen. Damit betrat die Bundesregierung absolutes Neuland.

Die Ausnahmeregelungen folgen der berechtigten Einschätzung, dass die Wartezimmer zu Seuchenherden werden könnten. Die Regelung bildete die rechtliche Basis für eine Krankmelde-Welle, die zu Beginn der Pandemie fast einem Generalstreik ähnelte. Mit der ersten Welle im März 2020 gab es eine Welle massenhafter Krankmeldungen durch die Lohnabhängigen. Ihre Weigerung, zur Arbeit zu gehen und ihre Kinder zur Schule zu schicken, löste den ersten Lockdown mit aus. Dieser war nämlich keineswegs rein von oben gesteuert, sondern die Landesregierungen gaben einem massiven Impuls aus der Bevölkerung nach.


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Diese passive Verweigerung der Lohnabhängigen bleibt in der öffentlichen Debatte unterbelichtet. Die Werktätigen waren nicht Opfer, sondern Motor der Geschichte.

Zuvor nahmen die Zumutungen für die Werktätigen stetig zu. Corona markiert einen tiefen Einschnitt in die neoliberale Arbeitswelt. Das Unterdrücken von Krankheiten mit chemischen Mitteln, Doping für den Arbeitsplatz, galt im Neoliberalismus als Zeichen von Heldentum und Opferbereitschaft, als Bekenntnis zur Firma und ihren Zielen. Doch in den letzten Jahren stieg die Zahl der Krankmeldungen wieder an.

Als ein Vorbote dieser kulturellen Wende kann die German-Wings-Katastrophe 2015 gelten. Der selbstmörderische Pilot, der 144 Passagiere und 6 Crewmitglieder tötete, war krank zur Arbeit erschienen, möglicherweise hatten ihn die Arbeitsbedingungen krank gemacht. In der Folge gelang den Pilot*innen etwas selten Dagewesenes. Sie konnten den Präsentismus (krank zur Arbeit gehen) bei Ryanair erfolgreich eindämmen, sie streikten bei TUIfly sogar erfolgreich durch ein kollektives Krankfeiern, ein »Sick-out«.

Bis in die 1980er Jahre galt das Krankfeiern als Form des individuellen Streiks, der in einem notorisch streikarmen Land wie Deutschland laut offiziellen Statistiken tatsächlich intensiv als Ausweichstrategie genutzt wurde, um wachsenden Arbeitsdruck zu mildern. Es gab aber, von der Sozialwissenschaft unerforscht und von den Gewerkschaften verschämt verschwiegen, das Krankfeiern auch als Form des Protests und der kollektiven passiven Resistenz bei Unzufriedenheit und Konflikten im Betrieb. Mitunter haben sich in den 1970er und 80er Jahren ganze oder halbe Schichten von Fließbandarbeiter*innen krankschreiben lassen, wenn auf Arbeit dicke Luft war.

Diese »Krankfeierkultur« haben Gesetzgeber, Personalverantwortliche und Unternehmensberater*innen gezielt und letztendlich erfolgreich bekämpft. Wer öfter fehlte, kam auf die Abschussliste; wer in der Probezeit krank wurde, flog in vielen Branchen automatisch raus.

Die Folge dieses neoliberalen Kulturwandels in der Arbeitswelt – der durch Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung und Angst vor Hartz IV stark gesteigert wurde – waren: ein weit verbreiteter Präsentismus, Burn-out als Volkskrankheit sowie Mobbing als Massenphänomen und als Ausdruck eines allgemeinen Leistungsdrucks.

Die Corona-Pandemie bedeutet möglicherweise einen Kulturbruch mit diesem sozialschädlichen Leistungskult. Doch mit der telefonischen Krankschreibung kommen auch neue Gefahren: In Bereichen, wo die Beschäftigten unter starkem Druck stehen (»systemrelevante Berufe«), schlecht organisiert sind, keine Betriebsräte und aktive Gewerkschaften an ihrer Seite haben, sind Personalverantwortliche jetzt möglicherweise in der Versuchung, den Druck sogar noch zu verstärken. Denn der Neoliberalismus folgt der Logik: Unsere Rezepte sind alternativlos; wenn sie nicht wirken, muss die Dosis erhöht werden.


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