Tönnies: Falscher Hase. Elmar Wigand in junge Welt

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Fleischbaron Tönnies verspricht Ende von Werkverträgen und »schöner Wohnen« für Arbeiter. Kritiker glauben nicht an Systemwechsel

Skeptisch ist auch Elmar Wigand, Pressesprecher der »Aktion gegen Arbeitsunrecht« aus Köln. Mit Blick auf die Verhältnisse bei Tönnies spricht der Verein von »industriellem Rassismus« und einem »kriminogenen Sumpf« aus illegaler Arbeitnehmerüberlassung und Mietwucher. Wie Wigand am Mittwoch gegenüber jW erläuterte, sei das System der Werkverträge in der Fleischindustrie eine Mogelpackung. In Wahrheit handele es sich um Formen verdeckter Leiharbeit, »weil alles dafür spricht, dass die Schlachthofbetreiber ein unmittelbares Weisungsrecht gegenüber den Beschäftigten des Werkunternehmers ausüben«.


Wir dokumentieren einen Beitrag von Ralf Wurzbacher: Fleischindustrie — Falscher Hase, junge Welt, 14.8.2020, https://www.jungewelt.de/artikel/384238.fleischindustrie-falscher-hase.html

Clemens Tönnies ist ins Lager der Guten gewechselt. Beschämt durch die Rolle seiner Schlachthöfe als Coronabrutstätten, wandelt Deutschlands Schweinebaron urplötzlich auf dem Pfad der Tugend und bringt nur noch Heil und Segen: Insbesondere will er dem konzerninternen Ausbeutungssystem den Garaus machen und Tausende osteuropäische Werkvertragsarbeiter in Festanstellung übernehmen. Das hatte der Holding-Chef schon vor Wochen angekündigt. Zum 1. September würden 1.000 Beschäftigte am Hauptsitz in Rheda-Wiedenbrück einen Vertrag bei einer der Tochterfirmen erhalten – später noch viel mehr.

Es kommt noch besser: Die Betroffenen sollen künftig sogar menschenwürdig und zu bezahlbaren Kosten untergebracht werden. Und nicht länger in maroden Sammelunterkünften zu obszönen Preisen. Konkret will das Unternehmen dafür rund 70 Häuser mit bis zu 1.500 Einheiten für bis zu 3.000 Bewohner errichten, um »günstige und gut ausgestattete Wohnungen nach einem festen Standard« bereitzustellen. Die entsprechenden Pläne hatte Tönnies-Geschäftsführer Daniel Nottbrock Ende Juli vorgestellt. Im Angebot habe man voll möblierte Singlewohnungen von 16 Quadratmetern oder Apartments für Paare von 27 Quadratmetern, erklärte er. Muster der Neubauten an mehreren Standorten in der Region sollen dabei Wohnheime in Lemgo sein, die dort seit 2018 an Studierende vermietet werden.

Überraschung: Der fragliche Wohnpark gehört zum Tönnies-Imperium. Erstaunt war man darüber auch beim Handelsblatt und ist den Hintergründen nachgegangen. Wie das Blatt am Montag schrieb, wolle der Konzern im Immobilienbereich »sein weiteres Standbein ausbauen – mit der Vermietung von Wohnraum an Arbeiter aus Osteuropa«. Allerdings ist es dabei mit dem zur Schau gestellten Samaritertum nicht weit her. Wie die Zeitung herausfand, sind die durch Nottbrock aufgerufenen Warmmietpreise in Höhe von 300 bis 450 Euro nämlich weit davon entfernt, orts- und marktüblich zu sein. So unterhalte die Stadt Lemgo ganz in der Nähe zu den Tönnies-Apartments Studentenwohnungen, die je nach Größe für 120 bis 140 Euro weniger zu haben sind.


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Das ausgegebene Motto »Wir schaffen Wohnraum« (Nottbrock) müsste also in Wahrheit heißen: Tönnies scheffelt Geld. »Das ist schon sehr üppig«, sagte so auch Ralf Brodda, Geschäftsführer des Mieterbundes Ostwestfalen-Lippe, dem Handelsblatt. »Unsere Schwierigkeit ist leider, dass wir hohen Mieten rechtlich nicht beikommen«, zumal in Lemgo die »Mietpreisbremse« nicht gelte.

Noch weiter geht die Kritik des Vorsitzenden des runden Tisches zur Situation von Werkvertragsarbeitnehmern in Gütersloh, Volker Richter (SPD). Er verlangt, die Wohnungen »zum Selbstkostenpreis an die Mitarbeiter« zu vergeben. Die menschenwürdige Unterbringung sei kein Renditeobjekt, sondern »die ethische Verpflichtung des ehrbaren Kaufmanns«. Schließlich werde ja schon aus dem Arbeitsverhältnis selbst Gewinn erwirtschaftet.

Zweifellos wären die Lebensbedingungen künftig bessere als in den runtergekommenen Behausungen, in denen die Arbeiter bis dato zu großen Teilen zusammengepfercht leben. Pro Schlafplatz müssen sie dafür bis zu 250 Euro hinlegen, die ihnen der Subunternehmer direkt vom Lohn abzieht. Mehr Platz und Komfort in den neuen Tönnies-Wohnheimen sind zwar schön und gut. Nur wer soll sich das bei einem Nettolohn von bisher 1.000 bis 1.500 Euro leisten. Aber vielleicht bezahlt Tönnies seine – demnächst vielleicht eigenen – Beschäftigten aus Ost- und Südosteuropa ja so gut, dass die Sache für sie erschwinglich wird. Man sollte sich nicht darauf verlassen.

Skeptisch ist auch Elmar Wigand, Pressesprecher der »Aktion gegen Arbeitsunrecht« aus Köln. Mit Blick auf die Verhältnisse bei Tönnies spricht der Verein von »industriellem Rassismus« und einem »kriminogenen Sumpf« aus illegaler Arbeitnehmerüberlassung und Mietwucher. Wie Wigand am Mittwoch gegenüber jW erläuterte, sei das System der Werkverträge in der Fleischindustrie eine Mogelpackung. In Wahrheit handele es sich um Formen verdeckter Leiharbeit, »weil alles dafür spricht, dass die Schlachthofbetreiber ein unmittelbares Weisungsrecht gegenüber den Beschäftigten des Werkunternehmers ausüben«. Das aber widerspreche den Weisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Über diesen Sachverhalt habe man sowohl das Hauptzollamt als auch den nordrhein-westfälischen Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) schon im Februar 2020 in Kenntnis gesetzt – bisher ohne jede Reaktion. Auch wegen der Untätigkeit der Behörden rechnet Wigand nicht mit durchgreifenden Verbesserungen bei Tönnies. Sein Urteil: »Raider heißt jetzt Twix – sonst ändert sich nix!«


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