„Wilder“ Streik: In Europa erlaubt, in Deutschland verboten?

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Darf man verbandsfrei streiken, oder darf man nicht?

Über das Kampfmittel des »wilden« Streiks und das Menschenrecht auf Arbeitsniederlegung.

Deutsche Rechtsprechung zu Streikverboten verstößt gegen internationale Standards und völkerrechtlich bindende Abkommen.


Der folgende Text ist die gekürzte Fassung des Referats »Mythos wilder Streik und Illegalität. Zum Grundrecht auf Streik« von Benedikt Hopmann, gehalten bei einer von der »Aktion gegen Arbeitsunrecht« organisierten Veranstaltung am 30. Juli im Stadtteilladen Stadtteilladen Kommune65 Berlin-Wedding. Er erschien am 3.8.2021 unter dem Titel »Scharfe Waffe« in der Tageszeitung junge Welt.


Nach der herrschenden Meinung sind nur Streiks zulässig, die ein tariflich regelbares Ziel haben und von der Gewerkschaft getragen werden, das heißt: Die Gewerkschaft muss dazu aufgerufen haben. Sie kann aber auch nachträglich einen Streik übernehmen.

Verfassungsrang

Als Folge der Novemberrevolution erhielt das Streikrecht erstmals Verfassungsrang. Und mit kaum geändertem Wortlaut wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Koalitionsfreiheit in das Grundgesetz aufgenommen. Der erste Satz des Artikels 9 Absatz 3 Grundgesetz lautet:


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»Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und alle Berufe gewährleistet.«

Im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung 1968 wurde auf Druck der Gewerkschaften in einem dritten Satz auch der Arbeitskampf ausdrücklich durch das Grundgesetz geschützt. Diese grundrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit ist ein sogenanntes Doppelgrundrecht: Es schützt sowohl den einzelnen Arbeiter, wenn er sich organisieren, zusammenschließen und gegen die Machtpositionen der Unternehmer angehen will, als auch den Bestand und die Betätigung der Koalitionen selbst, zum Beispiel der Gewerkschaften.

Das Grundgesetz spricht nicht von Gewerkschaften, sondern allgemeiner von »Vereinigungen«. Das Bundesverfassungsgericht verwendet in seinen Entscheidungen ebenfalls nicht den Begriff Gewerkschaften, sondern den Begriff Koalitionen. Der Wortlaut »Vereinigungen« lässt sehr wohl zu, darunter auch Zusammenschlüsse zu fassen, die nur zum Zweck eines Streiks gebildet werden, um bestimmten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Das ist, was die Beschäftigten des Lieferdienstes Gorillas gemacht haben. Solche Zusammenschlüsse werden auch Ad-hoc-Koalitionen genannt. Diese Streiks werden manchmal »wilde« Streiks genannt. Wir wollen sie verbandsfreie Streiks nennen und damit andeuten, dass die Gewerkschaft nicht dazu aufruft und sie auch nicht nachträglich übernimmt.

Wilder Streik bei Gorillas in Berlin, Juni 2021. (Lizenz: CC BY 4.0, Quelle: Wikicommons)
Wilder Streik bei Gorillas in Berlin, Juni 2021. (Lizenz: CC BY 4.0, Quelle: Wikicommons)

Im Streik setzen die Beschäftigten der Fremdbestimmung durch das Kapital, der jeder Beschäftigte unterworfen ist, ihre Selbstbestimmung entgegen. Damit ist der Streik Ausdruck des Artikels 1 Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieser Artikel 1 ist ein wichtiges Zeugnis der antifaschistischen Prägung des Grundgesetzes, und der Streik ragt heraus als kollektiver Ausdruck und kollektive Einforderung dieser Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher noch nie darüber entschieden, ob ein Streik einer Ad-hoc-Koalition, also ein verbandsfreier Streik, rechtmäßig ist.

Über »vertretbaren Umfang hinaus«

Anders das Bundesarbeitsgericht, das 1963 einen verbandsfreien Streik für rechtswidrig erklärte. Hier ein Auszug aus der Begründung: »… es ist wichtig, beim Ausbruch eines Streiks zu Kontrollzwecken Stellen einzuschalten, die (…) die Gewähr dafür bieten, dass nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt wird. (…) Als solche Stellen kommen auf der Arbeitnehmerseite bei ihrer gesellschaftlichen Stellung nur die Gewerkschaften in Frage. (…) Das Mittel des Streiks ist eine scharfe Waffe. Das verbietet es, das Streikrecht Personen oder Gruppen anzuvertrauen, bei denen nicht die Gewähr dafür besteht, dass sie nur in vertretbarem Umfang davon Gebrauch machen. Eine solche Gewähr ist bei den einzelnen Arbeitnehmern, den Mitgliedern der Belegschaft als solchen und nichtgewerkschaftlichen Gruppen nicht gegeben.« Die Gewerkschaften sind in diesem Urteil nicht Gegenmacht, sondern werden als Ordnungsfaktor instrumentalisiert.

Damit wendet sich die Rechtsprechung von jener der Weimarer Republik, ja sogar von jener der Kaiserzeit ab. Die Rechtsprechung der Weimarer Republik wie auch die der Kaiserzeit war alles andere als streikfreundlich, aber ein Streik war nie deswegen rechtswidrig gewesen, weil keine Gewerkschaft dazu aufgerufen hatte.

Hans Carl Nipperdey Portrait mit Unterschrift
Hans Carl Nipperdey. Portrait mit Unterschrift. (Quelle: Lebenslauf, Historikerkommission Reichsarbeitsministerium, Screenshot 10.8.2021)

Die Grundlage zu dieser obrigkeitsstaatlichen Wende im Arbeitsrecht legte Hans Carl Nipperdey. Nipperdey war während der Nazizeit einer der Kommentatoren des Gesetzes »zur Ordnung der nationalen Arbeit« (AOG). Dieses Gesetz hatte mit einem Federstrich das gesamte kollektive Arbeitsrecht der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt und es durch das uneingeschränkte Prinzip von »Führer« und »Gefolgschaft« ersetzt. Als Vertreter der Befürworter der Rechtswidrigkeit verbandsfreier Streiks zitiert das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung einzig Nipperdey.

Falsches Streikziel

Nipperdey hatte schon einige Jahre vor dem Urteil von 1963 den sogenannten Zeitungsstreik als Gutachter im Auftrag der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) für rechtswidrig erklärt. In diesem Gutachten ging es allerdings nicht um einen verbandsfreien Streik, sondern um einen politischen Streik des Jahres 1952. Es ging also nicht um den Streikträger, sondern um das Streikziel. Die Gewerkschaften hatten zu dieser Arbeitsniederlegung aufgerufen. Der Ausstand richtete sich gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz und war damit ein politischer Streik. Nipperdey hatte diesen politischen Streik für rechtswidrig befunden und sich damit als erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts empfohlen.

Sein Gutachten führte allerdings nicht zu einem Verbot des politischen Demonstrationsstreiks durch das Bundesarbeitsgericht. Vielmehr wird dieses Verbot bis heute immer nur indirekt daraus abgeleitet, dass die Richter mehrfach hervorgehoben haben, Streikziele müssten in einem Tarifvertrag regelbar sein. Das ist nicht möglich, wenn sich ein Ausstand zum Beispiel gegen ein geplantes Gesetz oder gegen die Bundesregierung richtet. Weder dem Bundesarbeitsgericht noch dem Bundesverfassungsgericht wurde bis heute ein politischer Streik zur Entscheidung vorgelegt, so dass diese Gerichte dazu auch bis heute nicht geurteilt haben.

Erst ausstempeln

Die Richter in Erfurt bzw. Karlsruhe haben bis heute auch zum politischen Demonstrationsstreik keine Entscheidung getroffen. Anders als der Erzwingungsstreik ist er zeitlich begrenzt. Fridays for Future rufen zum Klimastreik auf. Aber niemand streikt. Von der Süddeutschen Zeitung bis zu Bild wird landauf, landab verkündet: Das ist verboten.

Schritte in eine andere Richtung gingen am 20. September 2019 mehr als zwanzig Beschäftigte des Botanischen Gartens der Freien Universität Berlin. Sie nahmen an der Kundgebung von Fridays for Future teil. Das war kein Streik, folglich auch kein politischer. Denn der Arbeitgeber hatte die Lage der Arbeitszeit insgesamt, also auch die Kernarbeitszeit, zur Disposition gestellt. Damit konnten die Beschäftigten am Tag des Klimastreiks jederzeit freinehmen oder ausstempeln und sich damit in die Freizeit begeben. Doch in der Freizeit kann man nicht streiken. Der Arbeitgeber hätte allerdings wohl kaum die Kernarbeitszeit an diesem Tag aufgehoben, wenn es nicht Beschäftigte gegeben hätte, die am »Klimastreik« teilnehmen wollten. Eine solche Aktion wird in der Öffentlichkeit wie ein Streik betrachtet.

Gleichwohl bleibt die Frage bestehen: Was ist, wenn Beschäftigte an einem Klimastreik teilnehmen wollen und der Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht zur Disposition der Beschäftigten stellt?

Dieselbe Frage stellte sich, als 2020 Zehntausende Beschäftigte zum Gedenken an die Ermordeten in Hanau die Arbeit niederlegten. Was ist, wenn der Arbeitgeber Anhänger der AfD ist und einer solchen Maßnahme nicht zustimmt?

Ausdrücklich anerkannt

Eine wichtige Unterstützung für die Forderung nach einem erweiterten Streikrecht finden wir im Völkerrecht. Das sind vor allem die Bestimmungen der International Labour Organisation (ILO) und der Europäischen Sozialcharta. Die ILO hat sich unter das Motto »Weltfrieden durch soziale Gerechtigkeit« gestellt und will weltweit soziale Mindeststandards durchsetzen. Sie wurde 1919 gegründet, zunächst als Sonderorganisation des Völkerbundes, heute ist sie die älteste Sonderorganisation der UNO. Der Organe der ILO sind immer dreigliedrig besetzt durch staatliche Repräsentanten, Repräsentanten der Beschäftigten und Repräsentanten der Unternehmer. Die wohl wichtigste Vereinbarung der ILO ist das Übereinkommen Nr. 87. In dem Vertragstext ist zwar nicht ausdrücklich das Streikrecht erwähnt, aber es ist zu einem »Herzstück dieses Übereinkommens« geworden.

Die Unternehmerverbände haben vor nicht allzu langer Zeit eine Kampagne vom Zaun gebrochen, die sich dagegen richtete, dass die ILO Aussagen zum Streikrecht trifft. Dieser Konflikt, wenngleich gedeckelt, ist längst nicht ausgestanden. Denn der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA) der ILO hat »wilde Streiks« (»Wildcat strikes«) ausdrücklich anerkannt. Der zuständige Sachverständigenausschuss (CEACR) der ILO ist der Auffassung, dass die Streikziele nicht auf tariflich regelbare Ziele beschränkt werden dürfen. Er hat von der Bundesrepublik Deutschland gefordert, Proteststreiks zuzulassen. Der CFA hat dies ebenfalls in allgemeiner Form verlangt.

Außerdem gilt in Deutschland die Europäische Sozialcharta (ESC). Die ESC ist ein Vertrag des Europarats. Teil II Artikel 6 Nummer 4 der europäischen Sozialcharta lautet:

»Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragspartner (…) und anerkennen das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.«

Auf den Begriff »Arbeitnehmer« kommt es an. Es geht also nicht nur um das Recht der Gewerkschaften, sondern viel allgemeiner um das Recht der Arbeitnehmer auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts.

Rechtsanwendungsbefehl

Die Bundesrepublik hat der Europäischen Sozial­charta von 1961 mit einigen Ausnahmen per Gesetz zugestimmt und sie 1965 mit diesen Einschränkungen ratifiziert. Zu den Bestimmungen, denen Deutschland ohne Einschränkungen zustimmte, gehört die zitierte Bestimmung zum Streikrecht.

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Bedeutung von solchen völkerrechtlichen Übereinkommen so: »Damit hat der Gesetzgeber sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt.« Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte solche Völkerrechtsverträge »wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben«. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch dazu geäußert, was unter »methodisch vertretbarer Auslegung« zu verstehen ist: Solche Völkerrechtsverträge dürfen ausnahmsweise nicht beachtet werden, wenn »nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist«. Da das Bundesverfassungsgericht über einen entsprechenden Fall nie zu entscheiden hatte, ist auch nicht bekannt, ob es bei Anwendung von Artikel 6 Nummer 4 ESC einen Verstoß gegen »tragende Grundsätze der Verfassung« sieht.

Das Ministerkomitee des Europarats, in dem sich die Außenminister der Mitgliedstaaten versammeln, überwacht unter anderem die Einhaltung der ESC in den einzelnen Mitgliedstaaten und wird dabei von einem Sachverständigenausschuss (EASR bzw. ECSR) unterstützt. Seit Jahren erklärt dieser Sachverständigenausschuss, dass in Deutschland das »Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden«, einen Verstoß gegen die Sozialcharta darstelle.

1998 sprach das Ministerkomitee selbst eine »Empfehlung« gegenüber der Bundesrepublik aus. Damit wurde die Kritik am Streikrecht in Deutschland auf die höchste Stufe gehoben, die dem Ministerkomitee zur Verfügung steht. Eine schwerere »Sanktion« kann das Ministerkomitee nicht verhängen.

Das Bundesarbeitsgericht stellte wenige Jahre nach der Rüge des Ministerkomitees fest: »Dabei mag die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich durchsetzbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Artikel 6 Nummer 4 ESC einer erneuten Überprüfung bedürfen. Denn immerhin ist nach Meinung des Sachverständigenausschusses das Verbot aller Streiks in Deutschland, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sind und nicht von einer Gewerkschaft ausgerufen oder übernommen worden sind, mit den Garantien von Artikel 6 Nummer 4 ESC unvereinbar. (…) Auch erteilte das Ministerkomitee des Europarats am 3. Februar 1998 die ›Empfehlung‹, in angemessener Weise die negative Schlussfolgerung des Ausschusses unabhängiger Experten zu berücksichtigen.«

Die Bundesregierung hoffte wohl, dass mit diesem gerichtlichen Hinweis der fortgesetzte Völkerrechtsverstoß aus der Welt geschafft sei. Doch dem Sachverständigenausschuss EARS reichte die bloße Ankündigung nicht, er hielt seine Kritik am deutschen Streikrecht aufrecht. Die Rechtsprechung müsse sich ändern. Die Bundesregierung versuchte daraufhin, die Diskussion zu verschieben, und behauptete, dass Gewerkschaften in Deutschland leicht als Zusammenschluss gegründet werden könnten und deshalb keine Verletzung der Europäischen Sozialcharta mehr vorliege. Doch der Sachverständigenausschuss hat auch das nicht akzeptiert, weil Gewerkschaften nicht als Zusammenschluss zum Zweck eines Streiks gegründet werden können.

Wohlgemerkt: Mögen solche Ad-hoc-Koalitionen für eine bestimmte Dauer und aus einem bestimmten Anlass auch »Gewerkschaften« genannt werden, sie sind es nicht in dem Sinne, dass sie Tarifverträge abschließen könnten. »Ad-hoc-Koalitionen« sollen streiken können, um ein Unternehmen zum Beispiel zur Ausgabe eines Diensthandys für jeden Rider zu zwingen – nicht im Sinne eines Tarifvertrags, aber im Sinne einer Absprache. Das wäre der Weg, um ein völkerrechskonformes Streikrecht in Deutschland durchzusetzen.

Die Anforderungen an die Tariffähigkeit von Gewerkschaften (Mächtigkeit) würden damit nicht in Frage gestellt, eben weil es nicht darum geht, dass Ad-hoc-Koalitionen – wie Gewerkschaften – Tarifverträge abschließen können. Die Gewerkschaften haben gerade erst rechtskräftig durchgesetzt, dass dem Verband »DHV – Die Berufsgewerkschaft« diese Mächtigkeit aberkannt wurde. Das war angesichts der extremen Kapitalhörigkeit dieser »Gewerkschaft« ein Erfolg. Die Kehrseite dieser Anforderungen an die Mächtigkeit aber ist, dass Gewerkschaften in Deutschland eben nicht leicht gegründet werden können. Dies ergibt sich auch aus dem Konzept der Einheitsgewerkschaften, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Einsicht in die verheerenden Folgen der Spaltung der abhängig Beschäftigten in der Weimarer Republik geschaffen wurden. Ihnen liegt das Ziel zugrunde: »ein Betrieb, eine Branche, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag«. Das ist im Interesse der abhängig Beschäftigten. An einer Rechtsprechung allerdings, die Ad-hoc-Koalitionen das Streikrecht zuerkennt, fehlt es bis heute.

Nach zwanzig Jahren »sorgfältiger Prüfung« stimmte die Bundesrepublik in diesem Jahr auch der revidierten Sozialcharta zu. Doch wurde dieser Zustimmung eine »Auslegungserklärung« hinzugefügt, die sich unter anderem auf das Streikrecht (Artikel 6 Nummer 4 ESC) bezieht. Ein internationaler Vertrag wird genau dann vollständig entwertet, wenn ihn jeder Staat auf seine Weise auslegt. Exakt diesem Ziel dient diese »Auslegungserklärung«. Damit soll die Rechtsprechung gegen die streikrechtlichen Bestimmungen in der Europäischen Sozialcharta immunisiert werden. Im Kern handelt es sich um eine »Missachtung des Überwachungssystems der Europäischen Sozialcharta«, dem sich Deutschland mit der Ratifizierung dieses Vertrages unterworfen hat, wie der DGB in einer Stellungnahme urteilte. Die Bundesregierung setzt damit eine nunmehr fast 60 Jahre anhaltende Tradition fort: dem Streikrecht nach der Europäischen Sozialcharta zustimmen, es dann aber nicht einhalten, jede Rüge internationaler Gremien an sich abperlen lassen und den andauernden Völkerrechtsbruch mit einer eigenen Auslegung des Völkerrechts rechtfertigen.

Hoffen auf Strasbourg

Es kann sein, dass der entscheidende Anstoß für eine Verbesserung des Streikrechts vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg kommt. Dieses Gericht hat dadurch eine hohe Durchschlagskraft in Deutschland bekommen, dass vor einigen Jahren die Zivilprozessordnung geändert wurde. Seitdem kann ein Verfahren, das vor den EGMR gebracht und dort gewonnen wurde, in der Bundesrepublik wiederaufgerollt werden. Die innerdeutschen Gerichte müssen auf der Grundlage der gewonnenen Beschwerde in Strasbourg erneut entscheiden.

Der Gerichtshof trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die an die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen angelehnt ist. Für das Streikrecht ist der Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) vorrangig: »(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.« Im zweiten Absatz werden dann die Einschränkungen genannt. Bedeutsam ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehr stark das internationale Recht berücksichtigt. Für das Streikrecht bedeutet das also, dass der EGMR die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta und der ILO in seine Entscheidungen einfließen ließe.

Zur Zeit ist in Strasbourg ein Verfahren anhängig, das die deutschen Gewerkschaften eingereicht haben und das sich gegen das Streikverbot für Beamte richtet. Diejenigen, die jetzt von der Gewerkschaft in Strasbourg vertreten werden, hatten an einem Streik teilgenommen, obwohl sie Beamte waren. Im vorliegenden Fall blieb das Bundesverfassungsgericht stur bei seiner Rechtsmeinung, dass ein Beamtenstreik verboten ist, und behauptete, dies sei mit internationalem Recht vereinbar. Allerdings hat der EGMR in anderen Fällen ein Streikrecht für Beamte grundsätzlich bejaht.

Zur Frage von verbandsfreien Streiks hat der Europäische Gerichtshof bisher noch nicht entschieden. Ein Problem könnte sein, dass in Artikel 11 EMRK ausdrücklich von Gewerkschaften die Rede ist. Die Frage ist, ob der Gerichtshof auch Ad-hoc-Zusammenschlüsse unter diesen Begriff fasst.

Wichtig ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in der er für die Rechtmäßigkeit eines Streiks einer kroatischen Ärztegewerkschaft ohne weitere Begründung hat ausreichen lassen, dass eine hilfsweise erhobene Tarifforderung auf ein tariflich regelbares Ziel gerichtet war, während die beiden Hauptforderungen offensichtlich rechtswidrig waren. Das Bundesarbeitsgericht entscheidet genau andersherum: Ist auch nur eine Forderung nicht zulässig, ist der ganze Streik unzulässig.

Streikende Hoeschianer vor der Hauptverwaltung Westfalenhütte im September 1969. Foto: Archiv Peter Keuthen
Dortmund im September 1969: „Protest: 15 Pfennig sind ein Witz. Wir fordern sofort 30 Pfennig für alle!! Streikende Hoeschianer vor der Hauptverwaltung Westfalenhütte. (Foto: Archiv Peter Keuthen. Quelle: nordstadtbloger.de)

Zwischen den Stühlen

Das Verbot des verbandsfreien Streiks richtet sich am Ende gegen die Gewerkschaften selbst. Legendär sind die verbandsfreien Septemberstreiks von 1969. Dabei wurde ein »Nachschlag« bei den Löhnen gefordert. Diese Löhne hatte die IG Metall in Tarifverträgen vereinbart. Während der Laufzeit dieser Tarifverträge sind die Gewerkschaften an die Friedenspflicht gebunden. Sie können also während dieser Zeit nicht für höhere Löhne streiken.

Die Septemberstreiks führten zu einer differenzierten Betrachtungsweise, die sich im Geschäftsbericht der IG Metall für die Jahre 1971 bis 1973 so liest: »Im Gewande eines angeblichen Streikmonopols der Gewerkschaften werden so die Gewerkschaften zwischen die Stühle gebracht und die Kollegen, die an spontanen Arbeitsniederlegungen teilgenommen haben, der Willkür der Unternehmer ausgeliefert (Kündigung, Schadenersatz usw.). Für die Gewerkschaften kann es nicht darauf ankommen, die eigene organisationspolitische Position durch das Rechtswidrigkeitsurteil des Bundesarbeitsgerichts prägen zu lassen. (…) Es gibt (spontane Arbeitsniederlegungen), und eine Vielzahl der Arbeitsniederlegungen des Jahres 1973 waren solche, die durch die Preistreiberei und die tarifpolitische Starrköpfigkeit der Arbeitgeber ausgelöst wurden. Und es gibt viele Aktionen, in denen die Kollegen sich legitimerweise gegen Willkür und Übergriffe im betrieblichen Bereich zur Wehr setzen.«

Die IG Metall war nicht mehr bereit, das Verdikt verbandsfreier Streiks durch das Bundesarbeitsgericht »auf Gedeih und Verderb« mitzutragen. Damit »eroberte sich die IG Metall ein großes Stück Handlungsfreiheit«, so der damalige Justitiar der IG Metall. 1973 kam es aufgrund von erheblichen Preissteigerungen noch einmal zu verbandsfreien Streiks. Daran beteiligten sich 275.000 Beschäftigte aus 335 Betrieben.

Zu den bedeutsamen verbandsfreien Streiks gehörten auch die Streiks gegen die Herabsetzung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 1996. An diese Verteidigung der Lohnfortzahlung durch verbandsfreie Streiks in der Metallindustrie wird kaum erinnert, während der Kampf der IG Metall um die Lohnfortzahlung 1956/57 Kultstatus besitzt. Aber beide waren ganz außerordentliche Streiks, die wir in unserem Gedächtnis bewahren sollten.

Gezielter Rechtsbruch

Was das Streikrecht angeht, haben inzwischen fast alle Gewerkschaften Beschlüsse gefasst, in denen das politische Streikrecht gefordert wird. Doch es wird kaum die Frage diskutiert, wie diese Forderung durchgesetzt werden kann.

Es ist den wenigsten bewusst, dass sich diese Forderungen nicht an den Gesetzgeber richten können, weil das mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem schlechteren Recht führen würde. Da sind sich wohl alle gewerkschaftlich orientierten Juristen einig.

Daher bleibt nur der Versuch, ein besseres Recht über die Rechtsprechung durchzusetzen. Das verlangt aber als ersten Schritt den gezielten und kalkulierten Rechtsbruch. Diesen Rechtsbruch kann man allerdings auch anders bezeichnen, indem das erstrebte Recht, für das gestritten wird, von vornherein als das bessere Recht bezeichnet wird (»Streikrecht als Menschenrecht!«, »Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung durch das Kapital« usw.).

Denn was soll man davon halten, wenn ein »Rechtsbruch« nur darauf beruht, dass die Bundesregierung ihrerseits Völkerrecht bricht? Auch finanzielle Risiken sind kalkulierbar. Daher sticht das Argument der unkalkulierbaren Schadenersatzansprüche nicht. Das gesamte Streikrecht ist erkämpft worden. Und es kann auch nur so verteidigt und verbessert werden.


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