Apropos soziale Gerechtigkeit

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Ein zorniger Einwurf: Wieviel Ungerechtigkeiten wollen wir uns eigentlich noch bieten lassen?

Andrea Nahles + Martin Schulz - Kämpfer für soziale Gerechtigkeit?
Die Arbeitsministerin und der Kanzlerkandidat. Kämpfer für soziale Gerechtigkeit? (Foto: Olaf Kosinsky | Quelle: Wikicommons)

Sehr gut: Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will für Arbeitnehmer mehr Gerechtigkeit. Das trifft einen Nerv. Da ist Nachholbedarf, erheblich!

Aber was macht gleichzeitig die SPD-Arbeitsministerin? Andrea Nahles mauschelt mit dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Rudolf Seiters. Bisher werden 25.000 Schwestern des DRK als barmherzige, billige Arbeitskräfte an Kliniken verliehen. Europäischer Gerichtshof und Bundesarbeits-Gericht haben ihnen nun den regulären Arbeitnehmer-Status als Leiharbeiterinnen zuerkannt. Aber Nahles will mit einer Ausnahmeregelung den alten Zustand festschreiben (taz, 1.3.2017).

Wie weit sind wir eigentlich gekommen? Die Bundesregierung will höchstrichterliche Urteile aushebeln, und die SPD-Arbeitsministerin zieht das durch?

Und der Gerechtigkeitsvertreter Schulz lässt das stillschweigend links liegen? Er will die Zahlung des Arbeitslosengelds I verlängern und befristete Arbeitsverträge einschränken. Gut so. Aber da hat er sich nur wenige Ungerechtigkeiten herausgepickt.


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ArbeitsUnrecht: Die Liste ist lang

Unabhängig von Wahlkämpfen ist es längst an der Zeit, das ganze Spektrum ungerechter Arbeitsverhältnisse und das damit verbundene Unrecht öffentlich anzuprangern. Wir werden hier nur mal anfangen können. Also, zum Beispiel: Sieben Millionen abhängig Beschäftigte schlagen sich mit Minijobs herum. Aber die Unternehmer verweigern knapp fünf Millionen von ihnen das Krankengeld, drei Millionen bekommen das ihnen zustehende Urlaubsgeld nicht (NDR, 25.5.2014).

Zum Beispiel im Reinigungsgewerbe sind Arbeitsverträge mit 20 Wochenstunden verbreitet. Doch in dieser Zeit kann die geforderte Zahl an Zimmern und Quadratmetern gar nicht gereinigt werden, es muss fünf oder auch 10 Stunden mehr gearbeitet werden. Aber es werden nur 20 Stunden bezahlt. Damit wird auch der Mindestlohn unterlaufen. Ähnlich bei Taxifahrern: Viele werden für acht Stunden bezahlt, müssen aber 10 bis 12 Stunden fahren. Nebenbei bemerkt: Unternehmer lassen Stundenzettel fälschen – Urkundenfälschung als routinemäßige Straftat.

Überhaupt der Mindestlohn

Er beträgt jetzt 8,84 Euro pro Stunde, brutto. Nach zwei Jahren von 8,50 Euro um 34 Cent erhöht. Was ist dieser Armuts- und Hungerlohn eigentlich für eine Unverschämtheit? Und die missbräuchlich hunderttausendfach als Leiharbeiter und Werkvertragler eingesetzten Beschäftigten seien hier nur kurz am Rande erwähnt, ist ja alles bekannt.


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Nach der offiziellen Statistik ließen Unternehmen in den letzten Jahren im Durchschnitt gut 900 Millionen unbezahlte Überstunden arbeiten (Hamburger Abendblatt, 16.9.2016). So schenken abhängig Beschäftigte den Unternehmern jährlich mindestens 30 Milliarden Euro, ohne dass die Personalverantwortlichen dafür irgendetwas leisten, außer noch profitgeiler zu sein. Und das betrifft nur die dokumentierten Überstunden, während die nicht dokumentierten Überstunden sowieso immer mehr werden. Es handelt sich in den meisten Fällen um Erpressung, denn die Unternehmer drohen mit Betriebsschließung oder Arbeitsplatzabbau, also mit einem „empfindlichen Übel“.

Schöne neue Arbeitswelt: Arbeit auf Abruf

Kapovaz bedeutet kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit. Dabei haben 1,5 Millionen Beschäftigte keine festgelegten Schichten (zdfZoom, 26.4.2017). Sie halten sich auf Abruf bereit. Das Unternehmen kann sie bei Bedarf für eine wechselnde Stundenzahl heranholen, mindestens 10 pro Woche.

Nach Teilzeit- und Befristungsgesetz muss es mindestens drei zusammenhängende Arbeitsstunden und eine Ankündigungsfrist von vier Tagen geben. Doch diese Vorschriften werden hunderttausendfach verletzt – Anruf morgens 5 Uhr: Sofort kommen! Das führt unter anderem dazu, dass solche Beschäftigte, die eigentlich einen zweiten Job brauchen, um über die Runden zu kommen, keinen kriegen.

Die Bundesregierung drängt die Jobcenter zu harten Einsparungen. In den Jobcentern selbst arbeiten immer mehr Beschäftigte mit befristeten und Teilzeitverträgen (taz, 27.10.2015). Gleichzeitig sollen sie möglichst viele der niedrigen Ansprüche der Arbeitslosengeld II-Empfänger abschmettern.

Finanzielle Sanktionen erweisen sich zu zehntausenden als willkürlich und unbegründet – und das sind nur die wenigen, bei denen die zermürbten Arbeitslosen mithilfe eines Anwalts vor Gericht ziehen (Focus, 8.4.2016).

Als die jetzige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Arbeitsministerin war, strich sie den ALG II-Empfängern den Beitrag zu Rentenversicherung. Das kommt noch hinzu, hier wie überall mit den genannten und weiteren Ungerechtigkeiten.

Rentner malochen als nächtliche Zeitungsausträger bis zum Tod: Die Altersarmut ist schon da und wird weiter vorbereitet, vor allem bei den Jungen.

Warum und wie lange wollen wir uns das eigentlich noch bieten lassen?

Arbeitsrechte sind Menschenrechte!


Der Beitrag erschien ursprünglich in der ver.di-Zeitschrift publik 3/2017.


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6 Kommentare

  1. Dem kann ich nur beipflichten. Vielleicht sollten wir uns an anderen Länder orientieren, wo die Arbeitskraft und das Wissen zählt und nicht, dass man irgendwelche Zeugnisse vorlegt und Beurteilungen.
    Jeder ist so gut, wie er arbeitet und ein Zeugnis sagt das nicht aus.

    Mein Partner ist gelernter Kaufmann, Betriebswirt und hat durch seine damalige Partnerin, die selbständig war, alles verloren.

    Auf dem Arbeitsamt wird man wie der letzte Dreck behandelt, wenn man lange keine Arbeit hat, aber vermitteln können sie auch nichts. Hat sich dann selbst was gesucht und fährt jetzt LKW, er wollte arbeiten.

    Das Personal sollte erst einmal so geschult werden, dass sie auch verstehen, mit den Arbeitslosen umzugehen und vielleicht sollte man sie wie Menschen behandeln.

    Man muss sich nicht wundern, dass Altersarmut so extrem in Deutschland ist und die Politiker, die dann auch noch beim Arbeitslosengeld den Rentenanspruch streichen, sollten sich schämen, aber denen geht es ja gut.
    Sehr entwürdigend.

  2. Harald hat es auf den Punkt gebracht: nicht jammern, organisieren. Dazu gehört auch, sich informieren, und nicht bei der Lückenpresse, sondern bei kritischen Medien wie den Nachdenkseiten.de. Und die Partei wählen, die sich als einzige von dem neoliberalen Einheitsbrei abhebt und konsequent für die Interessen der „schweigenden Lämmer“ eintritt: die Linkspartei.

  3. Hallo zusammen,

    Ich finde es erschreckend von solchen Zuständen lesen zu müssen.
    Mir war gar nicht bewusst, dass das alles tatsächlich solche Ausmaße annimmt.
    Ich danke für den Artikel.

    Auch wenn ich mir die anderen Kommentare durchlese, bin ich erschüttert.
    Kann man denn dagegen denn gar nichts tun? Etwa mit einem Rechtsanwalt für Arbeitsrecht? Oder für Sozialrecht?
    Habt ihr denn da schon probiert euch zu wehren? In der Presse hört man nie von solchen Fällen.
    Ich hoffe, es nimmt ein gutes Ende mit euch.

    Grüße, Patrick

  4. Ergänzung:
    Mich würde die Sache nicht ärgern, wenn man Arbeitnehmern wie mir die Möglichkeit gäbe die fehlenden Kenntnisse aufzuarbeiten, aber auch dies wird mir verwehrt. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass ich seit März 47 Jahre alt geworden bin, und nur wegen Geschäftsaufgabe des elterlichen Familienunternehmens vor dem privaten Ruin stehe – Das Geschäft wurde in Erbengemeinschaft geführt, und die Chefin, meine Mutter, ist unheilbar an Demenz in Verbindung mit Parkinson erkrankt – interessiert keinen Menschen, weder in der SPD, noch sonstwo was man als Mensch durchmacht in meiner Lage – Mein Vertrauen in den Staat und die Parteien sowie manche Menschen in Deutschland ist deswegen mehr als erschüttert.
    Früher erhielt man in meiner Lage Hilfe von allen Seiten – Heute heißt es, selber schuld – auch bei schwerer Pflegebedürftigkeit und Krankheit, wie ich weiß, weil ich das jeden Tag hier mitleiden darf….die demente Mutter lebt im selbe Wohnhaus wie ich….

  5. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass, egal aus welchen privaten Gründen, die Unterbrechung der eigentlichen Berufslaufbahn im Ausbildungsberuf bei hunderten von Arbeitnehmern nach SGB III als „wieder Ungelernt“ gilt, d.h. man hat nicht die Möglichkeit seine veralteten Kenntnisse im Lehrberuf aufzufrischen sondern wird gleich in Leiharbeit abgeschoben – so mir passiert, und immer noch aktuell.
    Ich bin derzeit dauerhaft krankgeschrieben,und kämpfe um eine Umschulung im kfm. Bereich – eben weil mir die Berufsausbildung wegqualifiziert wurde seitens des dt. Arbeitsmarktes. Eine Ironie daran ist, dass ich sogar ausgebildeter Staatsdiener bin – zwar nur in einer Kommunalverwaltung, aber die gilt eben nichts mehr – ich werde auf miese Jobs abgeschoben, zudem weit entfernt vom kfm. Berufsfeld, dass ist der nächste Skandal. Früher hieß es einmal man muss einmal wissen was man gelernt hat, und arbeitet dort eben für immer – in neoliberalen Zeiten heißt es, der Propaganda nach, dass man viele verschiedene Berufsfelder beackern soll, das wird dann anerkannt – Pustekuchen reine Propaganda, wie ich mittlerweile weis, der neben seiner Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten schon – neben Phasen der Weiterbildung und Arbeitslosigkeit – einen lupenreinen neoliberalen Lebenslauf nachweisen kann. Zudem war ich 12 Jahre im Familienunternehmen tätig bzw. kann leider deswegen auch kein Arbeitszeugnis nachweisen. Das wird jetzt als „wieder ungelernt“ eingestuft, und ich wurde als „wieder Ungelernter“ in Leiharbeit abgeschoben. Ich weiß von anderen Fällen, aber typisch Lückenpresse, werden die totgeschwiegen, da es nicht ins neoliberale Weltbild passt, dass man als „wieder ungelernt“ eingestuft wird in Deutschland, während angelsächsische Länder, die Ursprungsländer des Neoliberalismus es lockerer handhaben.
    Gruß
    Bernie

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