Big Data Healthcare: Risiko-Faktor Arbeitsunfähigkeit

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Soziale Physik in der Gesundheitspolitik. Die unheimliche Kooperation von Krankenkassen und Software-Konzernen

Big Data Healthcare
Als Leonardo da Vinci 1489 die Hirnventrikel sikizzierte ahnte er nicht, welche Visionen von totaler Vermessung aller menschlichen Regungen einmal denkbar würden.

von Capulcu, Rote Hilfe Zeitung 2/2017

Längst versuchen Krankenkassen, ein detailliertes Abbild unserer Gesundheit  zu ermitteln – oder was sie aus ihrer von Interessen geleiteten Sicht dafür halten. In dieses Abbild fließen alle unsere erfassbaren Arbeits-, Ess-, Freizeit-, Einkaufs- sowie sonstige Lebensgewohnheiten und Neigungen ein.

Analog zum unbegrenzten Datenhunger der Kreditinstitute für die Berechnung der Kreditwürdigkeit anhand von mehr als 80.000 Indikatoren wird auch die medizinische „Bonität“ eines jeden Versicherten errechnet.

Diese Daten geben nicht nur statistisch Aufschluss über Korrelationen zwischen gesundheitlichen Beschwerden einerseits und den vielleicht ursächlichen, individuellen Lebensgewohnheiten, sondern lassen eine detaillierte Analyse des individuellen Krankheits-Risikos zu, welches über vollständig individualisierte Versicherungstarife eingepreist werden soll.


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Das Ziel dieser forcierten „Entwicklung“ ist die feinst mögliche Risiko-Kategorisierung – die maximale Verfeinerung der Schubladen, in die uns Krankenversicherer bislang sortiert hatten. Das bedeutet nicht weniger als das vollständige Unterlaufen des ursprünglichen Solidargedankens der (ersten Betriebs-) Krankenkassen.

Angriff der Daten-Kraken

Alles was wir tun, beziehungsweise nicht nachweisen können, oder gar nachweislich nicht tun, wird zur Bonitäts-Berechnung herangezogen. Das klingt wie der im Roman „Zero“ von M. Elsberg beschriebene globale „Score“, also ein für alle sichtbares Ranking unserer Lebensverbesserungsbemühungen. Nur eine denkbare, wenn auch nahe liegende Fiktion? Nein, schon jetzt Realität bei allen Versicherungsunternehmen.

Die AOK zum Beispiel lässt über den Datenanalysten Dacadoo einen so genannten „Healthscore“ für jedes ihrer Mitglieder berechnen. Die Ermittlung dieses aggregierten Zahlwerts ist Betriebsgeheimnis und die Verarbeitung findet nach eigenen Angaben „derzeit noch anonym“ statt. Für uns lediglich sichtbar: In Einzel-Modulen müssen immer mehr Risiken zusätzlich zu einer weiter schrumpfenden Basisversicherung mitversichert werden.

Die Generali-Gruppe kooperiert mit dem südafrikanischen Versicherer Discovery, um als erste in Europa das so genannte Telemonitoring bei ihren Lebens- und Krankenversicherungen einzuführen. Kund*innen der Generali erhalten günstigere Versicherungstarife, wenn sie bereit sind, ihre Gesundheitsbemühungen elektronisch nachzuweisen.

Dazu kooperiert die Generali sowohl mit Supermarktketten, die mit Karte oder Smartphone bezahlte Lebensmittel-Einkäufe auswerten, als auch mit großen Fitnesscentern, die das Trainingspensum mitprotokollieren.

Der Techniker-Krankenkasse geht die Entwicklung der elektronischen Patientenakte zu langsam voran. Sie bestätigt im Frühjahr 2017 gemeinsam mit IBM die Entwicklung einer Patientenakte für ihre zehn Millionen Versicherten, die neben den „klassischen medizinischen Daten“ ebenfalls Auswertung von Fitness-Trackern enthalten soll.

Die französische Axa-Versicherung wertet in einer Kooperation mit Facebook systematisch Einträge des sozialen Netzwerks zur Tarifanpassung aus.

Wer beim Einkauf von Zigaretten oder Junkfood per Karte oder Smartphone zahlt, wird zukünftig einen teureren (Kranken-) Versicherungstarif bekommen.

Medical Crowdfunding – Institutionalisierung des Almosenwesens

Was ist die Zukunft für diejenigen, die aus dem Leistungsspektrum einer auf Selbstoptimierung und Entsolidarisierung programmierten Krankenversicherung herausfallen?

In den USA für Millionen von Menschen bittere Realität: Wer seine Krankheitskosten nicht aufbringen kann, stellt sich und seine Notsituation in eigens dafür vorgesehenen Online-Bettel-Plattformen vor.

Komm, bewirb dich doch, mach anderen online klar, warum sie gerade dir ihr Geld für die Operation geben sollen! Selbst-Unternehmertum auch im Krankheitsfall. „Crowdfunding“ als Normalisierung eines immer weiter ausufernden Casting-Prozesses. Konformistisches Buhlen um die Gunst der Gutmenschen. Wer darf weiterleben, wer nicht?


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Die Netzgemeinde entscheidet dies ebenfalls über eine Art Scoring nach simplen Regeln: Wer stellt seine Bedürftigkeit am herzzerreißendsten dar? Ein Emotionen-Ranking ersetzt hier den Healthscore der nicht (mehr) zuständigen Krankenversicherung. Die anteilnehmende „Crowd“ darf sich ganz im Sinne des Charity-Gedankens als Lebensretter*in und -richter*in fühlen.

Die Bewegung der Selbstvermesser und Selbstoptimierer

Doch wie kann ich fitter, glücklicher, produktiver werden? Sie nennen sich „Selftracker“, „Life-Hacker“ oder eben „Quantified Self“-Bewegung. Bereits 2007, also lange bevor es Begriffe wie Big Data überhaupt gab, hatten zwei technikbegeisterte Journalisten die Webseite quantifiedself.com ins Leben gerufen. Aus einer kleinen Zahlensekte selbsternannter Cyborgs, die am liebsten alles in, an und um ihre Körper herum messen wollten, ist nun ein weltweiter Trend geworden.

Welchem Zweck dient die ununterbrochene Quantifizierung möglichst vieler Körperzustandsmerkmale? Ist es Selbsterkenntnis, Selbstverbesserung, gar Selbstermächtigung oder eher Selbstvergewisserung? Die Slogans reichen von „Erkenne dich selbst, sonst übernimmt das jemand anderes“ bis hin zum fatalistischen „Wenn Google, Facebook & Co. eh schon alle Lebensregungen aufzeichnen, sollten wir wenigstens an deren Auswertung teilhaben.“

Quantified-Self-Profis schnallen sich nachts ein Plastikband um den Kopf, um ihre Gehirnwellen aufzuzeichnen. Sie messen Blutzucker und Temperatur, auch wenn sie keine Diabetes und keine Grippe haben. Geistlos, weil ohne jede Annahme werden alle möglichen Korrelationen (statistische Häufigkeit, dass zwei Ereignisse gleichzeitig auftreten und daher womöglich miteinander zu tun haben könnten) berechnet – vielleicht lässt sich ja ein Zufallstreffer landen, der zeigt, wie meine kognitiven Leistungen mit meinen protokollierten Ess- und Verdauungsgewohnheiten zusammenhängen.

Nur wenige der unendlich vielen möglichen Korrelationsmessungen ergeben überhaupt einen Sinn – aber das ist zweitrangig. Das Antrainieren der Vermessungslust ist Lernziel und Botschaft an die noch „Unvermessenen“ genug. Es geht um das Aufprägen eines gesellschaftlichen Prinzips: Ermittle deine Werte! Weise Deine Bemühungen nach! Motiviere und diszipliniere dich selbst! Bring uns deine Daten, wir helfen dir dabei!

Smartphone als Gesundheitszentrale – „wearables“ für unterbrechungsfreie Totalüberwachung

Während sich Patient*innen und Ärzt*innen bislang noch gegen den staatlich verordneten Funktionsausbau der elektronischen Gesundheitskarte zur digitalen Patientenakte wehren, lassen Google und Apple diesen konfliktreichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess links liegen, indem sie das Smartphone von der Fitness- zur vollständigen Gesundheitszentrale ausbauen.

Google, Apple und andere fordern zur optimalen Gesundheitsbetreuung auf dem Smartphone die digitale Verwaltung von Arzt- und Laboruntersuchungen inklusive Medikation sowie die Eingabe der Ernährungsgewohnheiten. Trotz reichhaltiger Sensorik fehlt dem Smartphone die Körpernähe. Für eine aussagekräftige, engere Sensor-Tuchfühlung gibt es daher mittlerweile viele so genannte wearables, also tragbare/anziehbare Geräte, die per Bluetooth mit dem Smartphone kommunizieren.

Smart-Watches und Fitness-Armbänder oder auch intelligente Kleidung (Socken, T-Shirts und Sport-BHs) protokollieren unterbrechungsfrei Herzfrequenz, Kalorienverbrennung, Schlafverhalten, Blutzucker, Blutdruck und Sauerstoffsättigung im Blut. Die Sensorik unserer ständigen Begleiter nähert sich unserem Körper immer weiter an.

In kabelloser Verbindung zu einem der zahlreichen Fitnessarmbänder oder smarten Uhren zählen die Apps Schritte, messen Kalorienverbrauch, Puls, Blutzuckerspiegel, Sauerstoffgehalt im Blut und sagen uns, wie gut wir schlafen. Wer sie nutzt, soll genau kontrollieren, ob die selbstgesteckten Ziele erreicht werden – ob es nun ums Abnehmen geht, um neue sportliche Bestleistungen oder darum, „gesünder“ zu leben.

Ganz nebenbei wird auf spielerisch, smarte Weise die gesellschaftliche Doktrin der Selbstdisziplinierung und -optimierung verinnerlicht. Nicht nur für moderne Leistungsträger*innen gehören die hippen Fitness-Armbänder als funktionales Lifestyle-Accessoire zum Standard.

Soziale Steuerung über Belohnen und Anstupsen

Die ersten Versicherungsunternehmen bieten bereits billigere Tarife an für Personen, die digital nachweisen können, dass sie am Tag mehr als 5.000 Schritte gemacht haben. Während eine Paketzusteller*in über den angestrebten Zwang zu ausreichender täglicher Bewegung vermutlich müde lächelt, wir die Kassierer*in Schwierigkeiten haben, ihr Laufpensum zu erfüllen.

Die russische Alfa-Bank gibt Kundinnen höhere Kredite, wenn das Armband des US-amerikanischen Partnerkonzerns Jawbone aufzeichnet, dass sie diszipliniert mit dem eigenen Körper umgehen. „Gesundes Leben ermöglicht gesunde Finanzen“, heißt es beim wearables-Hersteller Jawbone. Auch der Britische Ölkonzern BP leistet der ausbeutbaren Selbstüberwachung Vorschub und schenkt seinen Mitarbeiter*innen Fitnessarmbänder.

Mit der IT-gestützten und kontrollierten Verhaltensökonomie ergeben sich hoch effiziente Methoden der Soziallenkung. Die Ersetzung des fordistischen Befehls („push“ im amerikanischen Management-Sprech) zur Bewirtschaftung begrenzter „Freiheit“ („pull“) hat zu neuen Formen der sozialen Veranlassung und Kontrolle geführt.

Der Yale-Professor Cass Sunstein hat für diese Form der Veranlassung den Begriff „nudge“ (stupsen) eingeführt: die verhaltenspsychologisch und -ökonomisch fundierte Form, Menschen zu etwas zu bewegen, ohne die Befehlsform anzunehmen. So, als ob sie selbst drauf gekommen wären. Geleitet oder allenfalls vermittelt durch Ratschläge von Facebook-Freund*innen oder durch die Auswertung der Analyse-Software lässt sich nachweislich effektiver die Lebensweise beeinflussen.

Give us your DNA – die maximal mögliche Erfassung

Getragen von der „Macht der Hoffnung“ will Google den lukrativen Umbruch von der analogen in eine volldigitalisierte Gesellschaft insbesondere in der Medizin vorantreiben. Stammzellen, maßgeschneiderte Krebsmedizin, Genomanalyse, Genchirurgie, Gencoding und Nanomedizin sind Teil von Googles Experimenten – dort weitermachen, wo Medizin und Wissenschaft heute an Grenzen stoßen.

Mit der Marktmacht das schaffen, was zig Nobelpreisträger*innen mit hunderten von Milliarden Dollar in drei Generationen nicht zuwege gebracht haben: Die Gesundheit als Informationsmanagement des eigenen Körpers verstehen. Wer früh genug den Krebs entdecken, wer rechtzeitig die Alterungsprozesse beeinflussen und wer das vermeintlich richtige Leben führen will, ohne irgendwann bereuen zu müssen, der muss seinen Körper aus dem digitalen Effeff kennen, ihn permanenter Kontrolle aussetzen.

Das von Googles Mikrobiologie-Abteilung entwickelte Krebsfrüherkennungs-Armband könnte in wenigen Jahren einen neuen Standard der Selbstbeobachtung setzen: In den Körper injizierte magnetische Nanopartikel fließen dauerhaft durch die Blutbahn und geben (beobachtet von einem Magnetsensor im Armband) Aufschluss über das Auftreten der ersten Krebszellen im Körper.

Mehr und mehr Unternehmen der so genannten „Lifestyle-Medizin“ drängen auf den Markt. Die Kölner Firma CoGap bietet eine Gen-Diät an: Eine Speichelprobe samt Gen-Analyse soll den patientenspezifischen Fettverbrennungstyp ermitteln und eine „maßgeschneiderte Diät“ zulassen.

Bei der Erfassung und Entschlüsselung des menschlichen Erbguts versucht Google die Datenvorherrschaft zu erlangen. Mit der 2014 vorgestellten Zugangs-Software für Genomdateien stellt Google die wichtigste Plattform seines Projektes „Google Genomics“ vor. Die Google Cloud ist fortan für Analyse und Austausch von Daten der beiden weltgrößten Genomdatenbanken zuständig.

Um der „Genomrevolution“ auf die Sprünge zu helfen, kooperieren Technofortschritts-Apologeten wie der der Walldorfer Software-Konzern SAP und drängen ihre weltweit 65.000 Mitarbeiter*innen zur molekularen Profilierung im Hinblick auf eine maßgeschneiderte individuelle Krebstherapie. Die Kosten für eine vollständige Genom-Sequenzierung (mittlerweile nur noch etwa 1.000 Euro pro Person) übernimmt SAP. Über eine vom SAP-Gründer Dietmar Hopp ins Leben gerufene Stiftung sollen weitere Menschen ihre Genominformationen einspeisen.

Die Neuvermessung des Basiscodes menschlichen Lebens soll also an Fahrt aufnehmen. Deren Protagonist*innen geben sich siegessicher: „Wir haben begonnen, nichts kann den Fortschritt aufhalten“, so Craig Venter, Pionier des Genom-Projekts.


Der Beitrag stammt aus der Rote Hilfe Zeitung 2/2017. Wir stellen ihn mit freundlicher Erlaubnis des Autoren und der Redaktion online.


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