Union Busting-News #16/22: Rechtsnihilismus und Straffreiheit | Ein Jahresrückblick

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Union Busting-News mit Jessica Reisner. Arbeitsunrecht und Betriebsratsbehinderung in Deutschland. Kleiner Rückblick auf 2022

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Straffreiheit bei Union Busting? I Interessante Fälle aus 2022

Unternehmerinnen und Unternehmer, sowie CEOs, die unseren Beiträgen folgen, bekommen zu Recht den Eindruck, dass die Verabredungen zu Straftaten und deren Ausführung, in der Regel straffrei bleiben. Jedenfalls solange es die Unterlaufung von Mitbestimmung und gewerkschaftlicher Organisierung, also Union Busting, betrifft.

Zuletzt auffällig waren für uns :

  • Der Sicherheitsdienst Prodiac/ KWS: Über 40 Prozesse hat der Betriebsrat im Laufe der letzten Jahre gegen die Schikanen des Unternehmens gewonnen. Aber: Gerichtsurteile ignoriert die Firma einfach und zahlt Strafen im Zweifelsfall aus der Portokasse. Eine Anzeige wegen Behinderung der Betriebsratsarbeit wies die Staatsanwaltschaft Bielefeld zurück, trotz Bestätigung eines Anfangsverdachts. 1 Faulheit, Arbeitsverweigerung? Die Verantwortlichen sollten sich jedenfalls eine belanglosere Arbeit suchen.
  • Rechtsnihilimus herrscht aber auch in der Firma des Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger. In der Firma Prominent installieren die Brüder Rainer und Andreas Dulger einen managementhörigen Betriebsrat und versuchen den ehemaligen Vorsitzenden zu feuern. Es ist unserer Meinung nach nicht akzeptabel, dass Arbeitgeberpräsident Dulger in Medien zitiert wird, ohne, dass seine militant demokratiefeindliche Grundhaltung Erwähnung findet. 2

Aber kommen wir zu den positiven Fällen:

  • Beim Autoverleiher Sixt gibt es überhaupt keine Betriebsräte. In Düsseldorf hielten drei Mitarbeiterinnen allen Schikanen Stand und werden den vermutlich ersten Betriebsrat in bei Sixt in Deutschland gründen. Hier verdient der Vorsitzende Richter Alexander Schneider vom Landesarbeitsgericht NRW lobende Erwähnung: er bezeichnete das Vorgehen gegen die Betriebsratsgründerinnen als wahnhaft. Bravo – Union Busting hat tatsächlich oft psychopathische Züge. 3
  • Die weitere große Ausnahme ereignete sich dem Seniorenheimbetreiber Residenz der Orpea-Gruppe. Hier muss die Firma der Betriebsratsvorsitzenden nach einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen 15.000,- Euro Schadenersatz für die im Rahmen des Union Busting erlittenen Schikanen zahlen. 4
  • Nahezu eine Sensation ereignete sich in Kassel: Die Staatsanwaltschaft Kassel forderte die IG Metall im Frühjahr 2022 zur Anzeige wegen Behinderung der Betriebsratsarbeit gegen die Siebenhaar Antriebstechnik GmbH in Hofgeismar auf. Großartig, vielen Dank dafür. Endlich einmal eine Staatsanwaltschaft, die man beim Thema Arbeitsrechte nicht zum Jagen tragen muss und die gerne aktiv wäre.

Union Busting per gelbem Betriebsrat

Es gibt aktive Betriebsräte, passive Betriebsräte, die nur als leere Hülle existieren und managementgesteuerte, sogenannte gelbe Betriebsräte. Letztere spielen unserer Einschätzung nach eine zunehmende Rolle. Drei Beispiele aus 2022


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Besonders prominente Beispiele aus dem Jahr 2022 sind die Lieferdienste Getir und Flink. Nachdem Kölner Getir-Fahrer eine Betriebsratsgründung angekündigt hatten, initiierte das Management kurzfristig eine Versammlung zur Wahl eines Wahlvorstands. Am 02 Mai 2022 fand unter der Regie des Getir-Managers Levent Isli eine Fake-Versammlung zur Einleitung einer Betriebsratsgründung statt, von der die echten Betriebsratsgründer sogar ausgeschlossen waren. 7 8

Auch der Fahrradlieferdienst Flink versucht einen echten Betriebsrat zu verhindern. Die Geschäftsführung will der Belegschaft statt dessen sogenannte Ops-Komitees schmackhaft zu machen. Ops steht für Operation, also Betrieb. Diese Betriebs-Komitees haben keinerlei Rechte. Im Gegenteil: wir bewerten sie als Instanz, die Meldungen unzufriedener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwecks Sanktionen oder Kündigung sofort an die Geschäftsleitung weiterleitet. Das aggressive Vorgehen von Flink und der beratenden Kanzlei Pusch Wahlig wird in 2023 noch ein wichtiges Thema sein.

Nicht nur, dass es um eine Grundsatzfrage geht. Unser Pressesprecher Elmar Wigand hatte 2022 mehrere Monate als Fahrer für Flink gearbeitet. Er wollte die Arbeitsbedingungen erforschen, aber auch eine Betriebsratsgründung aus nächster Nähe begleiten. Flink versucht ihn zu kündigen. Die Kündigungsschutzklage wird am Dienstag, dem 17.01.2023 um 11.00 Uhr am Arbeitsgericht Berlin, im Saal 209 verhandelt.

2022 kurz gefasst

  • Verdienstgrenze für Mini-Jobs ausgeweitet – der Niedriglohnsektor wird weiter ausgebaut. Die FDP freut das: Unternehmer zahlen für Beschäftigte mit Minijobs nur eine niedrige Pauschale anstelle von vollen Sozialversicherungsbeiträgen. 9 Die Beiträge fehlen in der Rentenkasse aber dafür kommt ja nun die
  • Aktienrente startet 2023 mit 10 Milliarden, teils auf Pump. In der nächsten Runde fordert Lindner, dass auch Rentenversicherungsbeiträge in Aktien fließen sollen. Hier ist aktive Gegenwehr gefragt.
  • Arbeitszeiterfassung: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Beschluss vom 13. September 2022 (Az. 1 ABR 22/21), festgestellt, dass in Deutschland die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzuzeichnen ist. Wow, Urteile des europäischen Gerichtshofs gelten auch für deutsche Unternehmen. Eine riesen Überraschung!
  • Equal Pay: Zuletzt noch ein riesigen Glückwunsch an die Kolleg*innen von Labournet! Gemeinsam mit der Sendung „die Anstalt“ und Professor Wolfgang Däubler hat Labournet vor dem EUGH eine Klage auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit für Leiharbeit unterstützt und auch gewonnen. Tarifverträge, die keine Kompensation für schlechtere Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern vorsehen, sind unzulässig und unwirksam. Das Verfahren hat seit Mai 2017 nur 5,5 Jahre gedauert. Sehens- und empfehlenswert dazu auch der Opener von Die Anstalt vom 20.12.2022 – unbedingt ansehen!10

Alles in allem bleibt bei diesem kurzen Ritt durch 2022 festzustellen: der Aktion gegen Arbeitsunrecht wird die Arbeit so schnell nicht ausgehen. Lohnabhängige sollten sich wappnen, wir laden herzlich dazu ein Mitglied unseres Vereins zu werden. Wir werden in 2023 weiter Druck dafür machen, dass Behinderung von Betriebsratsarbeit zum Offizialdelikt wird. Dann müssen Staatsanwaltschaften von sich aus ermitteln und wir selbst können kriminelles und militantes Vorgehen von Unternehmen gegen Betriebsräte zur Anzeige bringen.

Quellen


1Kevin Hoffmann, Prodiac / Bielefeld: Staatsanwaltschaft Bielefeld lässt Beschäftigte im Stich, 30.11.2022, https://arbeitsunrecht.de/frontberichte-11-2022-prodiac-borbet-sixt-ekato/

2Kevin Hoffmann:Prominent / Heidelberg: Unternehmen will ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden kündigen – managementnaher Betriebsrat bröckelt, 05.09.2022, https://arbeitsunrecht.de/frontberichte-08-2022-awo-prominent-hellofresh-vivantes/

3Kevin Hoffmnann: Sixt / Düsseldorf: Betriebsrats-Freie-Zone könnte bald Geschichte sein, 30.11.2022, https://arbeitsunrecht.de/frontberichte-11-2022-prodiac-borbet-sixt-ekato/

4Jessica Reisner: Residenz Seniorenheim/Orpea / Bremen: 15.000,- Schmerzensgeld für Betriebsratsvorsitzende, 04.11.2022, https://arbeitsunrecht.de/arbeitsunrecht-fm-13-22-union-busting-bei-allianz-ott-hydromet-xxxl-lutz/#anker04

5Kevin Hoffmann, Ott Hydromet / Fellbach: Abfindungsangebot, Mobbing und Kündigung gegen Betriebsratsvorsitzende, 3110.2022, https://arbeitsunrecht.de/frontberichte-10-2022-otthydromet-allianz-tiktok-motornuetzel/#anker01

7Jessica Reisner Aldi-Süd: Betriebsratsgründung endet mit Tumult und Polizeieinsatz, 14.04.2022, https://arbeitsunrecht.de/aldi-sued-betriebsratsgruendung-endet-mit-tumult-und-polizeieinsatz/

8Jessica Reisner Lieferdienst Getir: Gegenwehr gegen Schein-Betriebsrat des Managements, 06.05.2022, https://arbeitsunrecht.de/arbeitsunrecht-fm-8-22-yess-facility-gorillas-prominent-getir/#anker04

9Jessica Reisner: Ausbeutung: Lindner freut sich über Ausweitung von Mini-Jobs, 03.02.2022, https://arbeitsunrecht.de/arbeitsunrecht-fm-2-22-union-busting-news-mit-jessica-reisner/#anker03


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